Leseprobe – Jäger der Erinnerungen


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1 – Cade Chandra auf Khalakwolt

Fauchend und katzbuckelnd kam das Diop im schütteren Schatten einer Muskatzeder zum Stehen. Cade Chandra schloss die Augen und schwankte hilflos im Sattel. Übelkeit und Schmerz folterten seinen Körper in rasenden Wellen; die Muskeln verkrampften, das tobende Stechen in den schweißnassen Schläfen wurde unerträglich. Cade rutschte vom Rücken des Tieres, umklammerte zitternd den Zügel und kauerte sich am Fuß des Stammes zwischen knotigen Wurzeln zusammen. Was er sah, blieb unveränderlich deutlich, aber er nahm es nicht bewusst wahr, und obwohl er jede Einzelheit seit über fünfzehnhundert Tagen kannte, veränderten sich alle Eindrücke ins Groteske.

Trostlos breitete sich die Landschaft unter stechenden Sonnenstrahlen aus. Winzige Wellen rauschten über den Strand. Angeschwemmter Tang, weiße Muscheln und tote Fische stanken. Aus dem Boden wuchsen gerundete Felsen mit grellen Streifen archaischer Ablagerungen. Zwischen ihnen zerrte heißer, auflandiger Wind an den zähen Blättern harzig-ledriger Macchiasträucher. Das Meer lag da wie ein riesiger Spiegel mit schmutziger Oberfläche.

Sonnenstrahlen blinkten auf dem Wasser; die Inseln der windlosen Zonen wechselten alle Augenblicke ihr Aussehen. In der Hitze flirrte und flimmerte die Luft. Sie trug stechende Gerüche: Harz, ferner Rauch; irgendetwas verweste in der Nähe. Die Abfälle der Hangsiedlung verpesteten die Luft. Eine weiße Wolke, langgezogen und faserig, teilte den Himmel. Auf der östlichen Seite des Bergkammes fiel das Gelände sanft ab. Dort begann der Herrschaftsbereich Poter IV. Skuardi, des Herrn über Khalakwolt, Herrscher über Leben und Tod der Menschen.

Cade stemmte sich, halbblind vor Schmerz, in die Höhe. Er torkelte auf den Eingang der Taverne zu und schaffte es gerade noch, den nächsten Schatten zu erreichen. Das Diop trottete hinter ihm her.

Unter der gnadenlosen Sonne des frühen Nachmittags strauchelte er, fing sich wieder, wankte am Heiligtum der Ahouri vorbei, der Göttin der kurzen Ekstase, stolperte über den breiten Kiesstreifen. Mit beiden Händen klammerte er sich an die Torpfosten und versuchte durchzuatmen.

»Verfluchter Anfall!« Ihm war unbeschreiblich übel. Er lehnte am heißen Stein; eine winzige grüne Eidechse huschte raschelnd davon. In seinen Augen wuchs sie zu einem gigantischen Reptil.

Der Geier, der im stahlblauen Himmel seit Stunden kreiste, wurde zu einem monströsen Schatten, einem subtilen Symbol der Bedrohung, die Cade empfand. Die ausgespreizten Schwungfedern waren wie riesige Schwerter. Schweiß überströmt fiel Cade halb in den Schankraum hinein. Schritt um Schritt wich in der kühlen Dunkelheit die Übelkeit; jeder weitere Atemzug lichtete ein wenig die Schleier vor seinem Verstand. Cade wischte über seine Stirn und spürte, wie unter seinen Achseln Schweißströme das dünne Leder des Hemdes tränkten.

»Jadar wird helfen«, sagte Cade. »Hat immer geholfen.«

Die Schmerzen stachen bei jedem Schritt unter der Schädeldecke. Abgestandene Gerüche und die Ruhe eines Gewölbes umgaben Cade, als er auf die Säulenstümpfe vor dem Schanktisch zustolperte. Ein großes Viereck Sonnenlicht lag zwischen seinen Stiefelspitzen und dem gemauerten Kamin, das Licht fiel durch den mächtigen Abzug. Der Raum war leer; kein anderer Gast wartete auf Jadar. Cades Finger suchten den Griff der Waffe. Noch immer fühlte er sich bedroht und verfolgt.

»Jadar!« Auch seine Stimme erholte sich inzwischen. Einen Augenblick später wurde ein schwerer Vorhang zur Seite geschoben. Gegen das Licht zeichnete sich eine wuchtige Silhouette ab. Mit dem ersten Blick erkannte Cade den Wirt. Er ließ den Griff der Waffe los und setzte sich auf das Kissen aus schwarzem Fell.

»Ich hab schon nach dir suchen lassen.« Jadar schob seine Pranke über die polierte Steinplatte. Cade brachte ein unsicheres, schweißiges Grinsen zustande.

»Ich hab dich gefunden, wie du siehst«, sagte er heiser. »Mir geht’s dreckig, Jadar. Gib mir einen Schluck von deinem Zauberzeugs.«

Jadar ließ seine Hand einen Atemzug lang auf Cades Unterarm liegen, ertastete das Zittern und den rasenden Pulsschlag und nickte. »Ein Becher Naqnaq hilft dir.«

Cades Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt. Als Jadar einige knarrende Jalousien aufstieß, füllte sich der Raum mit Helligkeit. Im Licht tanzten Staubteilchen und Ascheflocken aus dem Kamin. Als Jadar den Verschluss aus dem bauchigen Krug zog, überlagerte ein frischer, angenehmer Geruch die muffigen Ausdünstungen der Mauern und den kalten Rauch. Cade massierte seine Schläfen und stöhnte auf, als die Fingerspitzen den schmerzenden Nerv erreichten. Abwesend hörte er, wie das Getränk in den Porzellanbecher gluckerte. Er hielt den Becher mit beiden Händen und trank in kleinen Schlucken. Im Rachen breitete sich Eiseskälte aus; er spürte seine Zähne, und während das Gemisch aus Kräuterauszügen und Alkohol die Kehle herunterrann, breiteten sich zuerst glühende Hitze und seltsame Betäubung in seinem Körper aus. Ein Schweißausbruch schüttelte ihn. Cade spürte, wie seine Sinne an ihre Plätze zurückkehrten. Er blinzelte Jadar an.

»Wieder ein Anfall, Cade?«

»Der dritte in diesem Mond. Und der verdammt schlimmste«, sagte Cade. Er hätte es längst aufgeben sollen, die Herkunft dieser seltsamen Krankheit auszuforschen. Jeder Versuch, hinter den Ursprung dieses Rätsels zu kommen, war bisher fehlgeschlagen. Die Stimme des Freundes blieb ruhig.

»Ein Aasvogel verfolgte dich wieder stundenlang?«

Cade nickte und konnte, ohne zu keuchen, den Becher leeren. Jadar schenkte nach. Cade schüttelte sich.

»Und wieder Gedankenfetzen? Söldner, Kampfspiele, eine andere Gemeinschaft? Zurück dorthin, woher du scheinbar gekommen bist?«

»Ja. Wie immer. Seit ich versuche, hinter die Barriere der Erinnerung zu gelangen, ist es, als ob eine Fessel um meinen Verstand liegt.«

»Ich weiß. Mir geht es nicht anders. Aber – mich packt’s nicht so wie dich, Cade. Noch einen halben Becher?«

»Ja. Bitte. Das Zeug hilft wirklich.«

Diese Anfälle trafen ihn stets völlig unvorbereitet. Eine Erinnerung an jene Zeit, die vor Khalakwolt lag, gab es nicht. Er fühlte sich wie eine Spielfigur in diese Umgebung hineinversetzt und ahnte nicht einmal, wie er hierher gekommen war. Ebenso erging es Jadar. Cade wartete tief atmend, bis der hauchdünne schwarze Becher wieder vor ihm stand.

»Jedenfalls haben wir mit uns gebracht, was wir einmal gut gelernt haben.« Jadar schien Cades Gedanken zu erraten. »Sonst wüssten wir nicht mehr als die vielen Leute, die Skuardi ausbeutet.«

»Und wir hätten viele Kenntnisse nicht, mit deren Hilfe wir unser Überleben sichern.«

Jadar blies in das Holzkohlenfeuer unter dem Kessel der Anlage, mit der er Kh’olk zubereitete. Er schüttelte einen kräftig bemessenen Schluck Naqnaq in einen zweiten Becher und setzte sich ächzend neben Cade. Jadar, den sie alle den hässlichen Wirt nannten, mit der Figur eines Gladiators, der zu wenig gekämpft und zu viel gegessen hatte, galt als verschlagen, gutmütig und geldgierig. Cade wusste es besser. Bisher hatte er drei Männer zählen können, die auffallend aus der Masse der Menschen Khalakwolts herausragten: Jadar, Poter Skuardi und er. Ausnahmen einer faszinierenden, abstoßenden und mittelmäßigen Herde unwissender Erinnerungsloser.

Fatalismus und Ergebenheit, stumpfes Verharren in Riten und mythischen Kulten lasteten über dem Land und seinen Menschen. Angst vor dem unausweichlichen Untergang, die Sinnlosigkeit jeglichen Strebens und die Erkenntnis, dass das Leben unberechenbar kurz war, beherrschten die Gedanken und diktierten das Verhalten von mehr als zweihunderttausend Menschen allein in den Grenzen von Poter Skuardis Königreich.

Cades Blicke kehrten von den Tischen zurück, die Jadars Mägde gereinigt, gedeckt und für den Abend vorbereitet hatten. Er stützte sich auf den Schanktisch, suchte im breiten Gesicht des Freundes erfolgreich nach Zuneigung und Verständnis und fühlte sich halbwegs wie wiedergeboren.

»Du hast mich tatsächlich suchen lassen, Jadar?«

»In der Stadt. Etwas Wichtiges. Ich hab’s durch Zufall herausgefunden … gefunden. Wo warst du?«

»Skuardi will wissen, wie sich die Leute im Westen des Hafens verhalten. Sein ewiges Misstrauen hat mich dorthin getrieben.«

»Und? Denken sie etwa an Rebellion?«

Das Feuer unter dem Kessel loderte. Im Durcheinander aus Kupferschlangen, Vorratsbehältern aus dickem Porzellan und kupfernen Hähnen brodelte und zischte es. Dampf pfiff aus einem Ventil. Cade winkte ab.

»Keine Spur. Sie beten zu Kraym, schauen den Schiffen hinterher und wünschen sich weit fort. Was wolltest du mir sagen?«

Jadar grinste. »Warte bis zum Abend.«

»Ich will gehenkt sein«, sagte Cade und richtete sich auf. Als er tief durchatmete, spürte er keine Schmerzen mehr. »Du heckst wieder etwas aus. Versuch nicht, mich zu beschwindeln. Du verlierst sonst den besten Kunden.«

»Hätte ich dich suchen lassen, wenn ich wirklich etwas verbergen wollte? Du sollst heute Abend mein Gast sein, das wollte ich dir sagen.«

»Ich bin hier. Ich höre.«

Jadar schüttelte seinen braunen, fast haarlosen Riesenschädel. Sein Grinsen versprach Überraschungen.

»Heute Abend. Reite heim, geh in dich, reinige deine Gedanken und deinen schönen Körper. Warte bis Mitternacht oder ein paar Stunden früher. Hat Poter – sein wünschenswert kurzes Leben bleibe ohne Sorgen! – dich nicht zu sich bestellt?«

»Nicht heute.« Cade sah zu, wie Jadars dicker Zeigefinger auf den weißen Todesvogel in der klobigen Goldfassung zustieß.»Er brütet über einem wichtigen Einfall. Offensichtlich.«

»Einfall?« Jadar hob die Arme. Seine Wangen zitterten. »In welches Land?

Gibt es noch eine Stadt rings um Khalakwolt, das seine Garde nicht heimgesucht hat?«

Cade schaute sich um. Der Raum war noch immer leer. Von draußen hörte man nur die Stöße der Brise und das Geräusch des Diop, das aus dem Brunnen soff.

»Nicht Einfall in einem Landstrich, sondern Einfall im Sinn hochmögender Ideen.« Cades Grinsen wurde bitter. Jadar schlug ihm auf die Schulter und stapfte zu der fauchenden Maschine. »Eines Tages wird dir der Ring auch nichts mehr nützen. Ich seh’s deutlich vor mir. Du wirst in einen Konflikt hineingezerrt, bleibst stur, ergreifst Partei, und dann fressen dich die Geier auf der Säule.«

»Kurz davor verkaufe ich mich als Ruderer an einen Schnellsegler nach Siddikye.«

»Viel Erfolg beim Versuch.«

Jadar zapfte zwei Tassen eines schwarzen, dampfenden Gebräus, gab Honig hinein, einige Tropfen Sahne und rührte um. Er angelte sich einen klobigen Hocker und setzte sich auf der anderen Seite der Barriere. Er spielte auf eine der vielen Schauergeschichten an, die in den Schenken und an Lagerfeuern leise erzählt wurden. Vor Jahren hatte ein Karawanenführer einen Ringträger erschlagen. Nather Skuardi, Poters Vater, hatte den Schuldigen einundzwanzig Tage lang in feiner Kunstfertigkeit auspeitschen, auf dem Kapitell einer Säule anketten, von Geiern zerfleischen und schließlich köpfen lassen. Die Sklavinnen, Treiber und Tiere, sämtliche Lasten, der Haushalt und das Vermögen wurden eingezogen. Ansehen, Macht und Schutz, durch diesen Ring garantiert, waren seit dieser Zeit beispiellos.

»Ich fürchte, du hast recht, Jadar.« Cades Stimme war fest geworden. »Noch stehe ich unter Poters uneingeschränktem Schutz. Ich fürchte mich vor dem Augenblick der Wahrheit.«

Jadar hob den Kopf, schien zu lauschen; er murmelte unverständliche Worte.

»Du hast Freunde in der Stadt und im ganzen Land. Du wirst ausweichen können.«

»Ich weiß. Es braut sich etwas zusammen. Gerüchte schwirren; nichts Greifbares. Der Kraym-Kult gewinnt immer mehr Anhänger.«

Sie tranken schweigend. Ihre Gedanken kreisten um das Leben, das sie führen mussten. Hunderte unsinniger Tabus – t’puoy in der seltsamen Sprache – engten die Bewegungsfreiheit ein. Ein waghalsiger Zickzackkurs war die Folge in einer Welt, deren Geschichte ebenso kurz zu sein schien wie Cades und Jadars Erinnerung. Cade leerte die Tasse und stand auf.

»Nachmittag«, sagte er. »Der Anfall ist vorbei. In der Nacht droht mir eine Überraschung, und ich weiß nicht recht, was ich tun soll.«

»Reite nach Hause, schlaf ein paar Stunden, und überleg dir, wie du Poter dazu bringen kannst, die Dampfwagen zu verbessern. Hunderte von Azern werden dich wie einen Fürsten feiern.«

Cade starrte Jadar an. Ein guter Vorschlag.

»Gut. Schreib’s an, wie immer.«

»Schon in Ordnung, Cade.«

Die Pranke des Hässlichen Wirtes schloss sich um Cades Hand. Cade verließ das Gewölbe, blinzelte im grellen Licht und schnalzte zweimal mit den Fingern. Das Reittier hob den schmalen Kopf, grunzte und kam langsam auf ihn zu. Auch die Diop – Mischung zwischen Kamel, Pferd und Raubtier – zählten zu den Seltsamkeiten der merkwürdigen Welt unter Yilmabasars heißen Strahlen.

Cade stellte seinen Fuß in den Steigbügel, hielt sich am vorderen Bug aus Knochen, Knorpeln und Muskeln fest und schwang sich in den Sattel, der aus dem Rücken des Tieres herauswuchs. Er lehnte sich gegen den hinteren Steg, zog am Zügel und kitzelte den Hengst mit den Sporen.

»In einer halben Stunde kriegst du dein Fressen«, sagte er, klopfte gegen den muskelstarrenden Hals und ritt an. Das Diop riss den Kopf in die Höhe, stob los und galoppierte auf den schmalen Pfad hinaus, der in großen Windungen vom Gelände der Karawanserei hinunter zur Straße führte. Vor dem südlichen Stadttor, einem Doppelturm aus Quadern, mehrfach mit gebranntem Ziegelmauerwerk ausgebessert, zog Cade die Zügel straff. Das Tier mit dem leuchtendgelben Fell stieg vor den Torwachen auf die Hinterbeine und kreischte aufgeregt.

Die Torwachen salutierten knapp, Cade passierte das Tor und ritt auf der Ringstraße, dicht unter dem Wehrgang der Stadtmauer, auf seine Wohnung zu.

Cade schirrte den Hengst ab, versorgte das Tier und zog den wuchtigen Riegel seiner Wohnungstür in die Höhe. Die Räume schienen leer zu sein. Cade rief nach Au Aru, doch niemand antwortete.

»Verfluchter Anfall«, sagte er, nahm die leeren Krüge und stieg wieder hundert Stufen hinunter.

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