Leseprobe – Jäger der Lebensformel


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1 – Jäger der Lebensformel

AUS: Nadir Amunray Marcander, Prof. Ives-Alain Khalil-Mandjaossi & Capitána Sonaidia Sharçais: G.R.A.L.; Galaktischer Ratgeber, Atlas und Lexikon aller bewohnten, bewohnbaren und unwirtlichen Welten und deren Muttergestirne. Verlag DIE GALAXIS, Terra/My Tsaigonis; Imperium Delta-Eridanis 024, AD 6398 (c), XVI. Auflage.

»Seit geraumer Zeit sind innerhalb des Imperiums die sog. VERGESSENEN WELTEN geläufiger Begriff und Symbol für die unüberschaubare Weite des Alls, für Werden, Vergehen und Vergessen, und für die Verschiedenheit der Zivilisationen und Kulturen, die sich nach dem Exodus fern der Erde entwickelten. Niemand weiß, wie viele Planeten in wie vielen Sonnensystemen damals besiedelt worden sind, und wie ihre Koordinaten lauten …

Sir Austin Haley Farthingale jr. (Terra, 6302 bis 6404) fand während seiner »III. Mythologischen Expedition« insgesamt sieben erdähnliche Welten, auf denen sich der Homo sapiens hervorragend angepasst und ausreichend vermehrt hat. Wie kaum anders zu erwarten, haben sich die dort herrschenden Sitten & Bräuche aus allen vorstellbaren Kultursplittern entwickelt (…)

Die Sonne Omikron Pharaonis zählt zu den RR-Lyrae-Veränderlichen; eine Sonne der absol. Helligkeit 100. Oberflächentemperatur: 12 000 Kelvin. Die Helligkeit schwankt ständig um mehrere Klassen. Gehört zur Gruppe A), deren Periode bei 12 Stunden liegt. Alle 450 min erreicht Omikron sein Leuchtkraft-Maximum; ein kosmisches Leuchtfeuer von exzeptioneller Bedeutung.

ACHTUNG!!! Dringende Warnung: Planet Narontene, IV. Begleiter von Ust Saramantis, 130 Lj entfernt, wurde vom Imperium zur Verbotenen Zone erklärt. Landung für jedes Imperiumsschiff und jeder Kontakt mit Bewohnern strengstens untersagt! Gründe: a) kulturelle und zivilisatorische Entwicklung wird studiert und gesteuert, b) auf Narontene wurde eine Führungskraft ausgesetzt: Seuchenträger (Pseudopsoriasis astralis) wartet auf Erfolg medizinischer Forschung. c) Bildfunkkontakte und Oneway-Sendungen sind erwünscht. Nur über Frequenz Stellarband 850 KHz, Koordinaten …«

 

Blaue Milane, Seeadler, Raben mit gelben Schnäbeln und Seefalken kreisten über den Klippen und am Strand. Nächtliche Flut und Brandung hatten die Reste der Narroptes angeschwemmt; die Vögel stürzten sich auf die Beute und flogen mit Fleischbrocken in den Krallen zu ihren Klippenhorsten. Cade Chandra drehte die Feineinstellung des Zielfernrohres, stützte den überlangen Lauf auf den schneeweißen Treibholzast und zielte sorgfältig. Als der Narropsbock den Kopf senkte, um hellgrüne Blätter des Busches abzufressen, zog Cade den Abzug durch. Mit leisem Peitschen löste sich ein Geschoss aus der Jagdwaffe. Das Tier zuckte zusammen, machte einen Satz vorwärts und überschlug sich viermal auf den zackigen Felsen. Das Geräusch, mit dem das gekrümmte Gehörn auf den Klippen zersplitterte, schwang als Echo hin und her. Der Rest der Herde floh in weiten Sätzen.

»Die erste gute Tat des Tages.« Cade sicherte die Waffe und ging in den Schatten. Er schaltete die Kaffeemaschine an, wählte einen Musicuby aus, aktivierte den Insektenschutz und tippte auf den Bildwürfel. Ein doppelt handgroßes Hologramm baute sich auf und begann sich zu bewegen.

»Liebster«, sagte Amourea Gonavard. »Seit wir uns in Jadars dunkler Spelunke auf Khalakwolt zum ersten Mal in die Augen sahen, liebe ich dich.

Wir haben in den Jahren und während herrlicher Abenteuer auf Zweitausendein Islands und Pharlevinc unsere Zuneigung vertieft. Denk an mich, Cade, denn ich bin mit allen Gedanken bei dir. Und: Es sind natürlich etliche Oneway-Sendungen unterwegs. Sogar mit neuen Holos von mir.«

Sie lächelte. Während Amoureas Abbild leise sprach, drehte sich der Würfel und zeigte sie in unterschiedlichen Posen. Cade hatte seinen Kopf in beide Hände gestützt und die Bilder schweigend angestarrt.

»Weiter im Tagesablauf, General Chandra, und mit etlichen geistvollen Selbstgesprächen.« Er blickte mäßig interessiert auf eine dreifache Reihe holographischer Monitoren, deren Bilder kaum zu sehen waren; die Sonne blendete durch die große Doppelscheibe. Pechschwarzer Kaffee rann in den großen Becher; der scharfe Geruch verdrängte das miasmatische Gemenge aus trocknendem Salz, verschwitzten Kissen, Waffenöl und heißen hochelektronischen Geräten. Cade grinste, zog die Schultern hoch, mischte Kondensmilch in die Brühe, warf Würfelzucker hinein und rührte bedächtig und lange um. Er setzte die Sonnenbrille auf und schaukelte mit dem segeltuchüberzogenen Sessel, in dem er, Jadar und Amourea zugleich bequem Platz gehabt hätten. Die krächzenden Raubvögel hatten sich am Strand und auf den Klippen versammelt. Ust Saramantis, eine flachgedrückte Scheibe, stand zwei Fingerbreit über dem Horizont. Eine langgezogene Wolke zerschnitt das Gestirn in unregelmäßige Hälften, die Sonne strahlte rot und riesig, vergrößert durch Wasserdampf in der Atmosphäre.

Die Fläche des Meeres kräuselte sich. Milliarden Lichtreflexe breiteten sich stechend blau zwischen dem Gestirn und dem Strand aus. Eine fast fotografische Erinnerung zuckte durch Cades Gehirn; dicht vor der Brandung rasten die rotsilbernen Meeresfalken dahin. Ihre langen Schnäbel schnitten eine scharfe Gerade ins Wasser und stießen blitzschnell nach vorn, wenn ein Fisch auftauchte. Eines der ersten Bilder auf 2001 Islands, dachte er, und er erinnerte sich daran in milder, fast trunkener Wehmut. Das Adagio der Sandmusik oder Pavane für Piri, Pak und Daegum verklang; ein Cembalostück von Girolamo Frescobaldi löste Peter Gray ab. Umschmeichelt von den zirpenden Klängen rauchte Cade die Zigarette zu Ende, trank in winzigen Schlucken den kochend heißen Kaffee und kaute auf einem Nährwertriegel.

Er überblickte von der weit vorspringenden Terrasse – sein überaus geräumiger Wohncontainer stand auf massiven sturmflutsicheren Stelzen über dem Treibgutwall des sichelförmigen Strandes – sein kleines Reich. Das Moos, die langgezogenen Inseln verschiedener Gräser, die kleinen und größeren Büsche und die Pilznadelpinien hatten sich in den fünf Monaten bestens erholt. Etwa fünfzig Böcke der gefräßigen Narroptes und mehr als hundert tragende Geißen hatte er abgeschossen und dadurch seinen Teil zur Rettung eines mittelgroßen Kontinents beigetragen.

»Höllisch fragwürdige Sache«, murmelte er und sagte sich, dass es Zeit für das tägliche Bad wäre. Salzwasser reinigte, verhinderte das Jucken – und half überhaupt nicht. Er leerte die schüsselförmige Tasse, rülpste laut und zündete sich, weil ihm zu Frescobaldi nichts anderes einfiel, die nächste Zigarette an. Er kicherte und hörte den fragwürdigen Tonfall heraus.

»Jetzt hast du, Cade Chandra, was du immer wolltest – unermesslich langen Urlaub im Luxus und auf Kosten des Imperiums. Allein, ohne Freundin, Freunde, menschliche Kontakte, verbunden mit einer interessanten Aufgabe als Beobachter, und in Wirklichkeit bist du, Jäger der Verrücktheiten, der ärmste Hund des Universums.«

Eine sarkastische Stimme flüsterte: »Es gibt viele, denen es viel mieser geht als dir, du galaktischer Schmock. Schäm dich!«

»Recht hast du«, brummte er, »aber ich bin ich, und auch kühnste Vergleiche machen die lausige Lage nicht sympathischer. Noch verfüge ich über einen stündlich abnehmenden Vorrat von Selbstbewusstsein, fragiler Würde und Selbstbeherrschung, aber, bei rechtem Sonnenlicht besehen, taugt das auch nicht gerade sehr viel.«

Er fügte einen langen, überaus drastischen Fluch hinzu und schüttelte sich. Er holte tief Atem und schob den Daumen hinter den Saum der winzigen Badehose. Er stand auf, drehte sich herum und betrachtete sich im türhohen Spiegel.

Die mühsam aufrechterhaltene Laune schwand dahin. Er sah, noch immer schaudernd, seinen Körper vom Haaransatz bis zu den Fingernägeln und den Zehen.

»Cade Chandra. Der Silberne Mann. Der Aussätzige, der Lepröse. Unrein, unrein! Cave Cadem, va via! Don’t touch me! Chandra, das Pflänzlein Rührmichnichtan.«

Er musterte sein Spiegelbild und verfluchte lautlos den sandigen Planeten Pharlevinc, die Karawansereien, den Psammarch und jene Schurken, die ihn abgeschossen und in den Tümpel der bösen Bakterien, Viren oder makabren Seltsamkeiten geschleudert hatten. Weder Amourea noch Jadar oder Storzia waren angesteckt worden – er, Jäger Cade, war das erste, einzige und voraussichtlich letzte Opfer dieses wasserarmen Planeten.

Er sah aus wie der ältere Bruder von Michelangelos David, mit billiger, schuppenwerfender Silberfarbe angestrichen. Er war ansteckend. Er musste isoliert werden. Sein Freund Vance Horatio DuRoy hatte ihn hervorragend ausgerüstet hierher bringen lassen und mit einer ebenso wichtigen wie frustrierenden Aufgabe betreut.

Er schüttelte die nächste Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie an und ging etwa hundertzwanzig Stufen zum Strand hinunter. Zwischen Gräsern, die sich sichtbar erholten, unter Palmen, deren Wurzeln langsam vernarbten, über weißen Sand ging er weiter, sprang in die Brandung und schwamm länger als eine halbe Stunde. Triefend tauchte er aus der brechenden Brandungswelle, scheuchte eine Staffel satter Milane auf und lief zurück in seinen Container. Die Pseudopsoriasis hatte weder sein körperliches Wohlbefinden noch seinen Stoffwechsel beeinträchtigt, sie beschränkte sich darauf, seine Haut zu bedecken, und Amourea war nur dadurch, dass Cade die Infektion in den ersten Tagen durch Salben, Binden und übergroße Vorsicht neutralisiert hatte, nicht angesteckt worden.

Auf der Terrasse blieb Cade stehen, zog die Badehose aus und legte ein Badetuch um die Schultern. Als er das erste Mal hier geschwommen war, hatte er es nur ein paar Minuten lang ausgehalten; jetzt tummelte er sich länger als halbe Stunden im salzigen Wasser. Die Sonne brannte sich tief in seine Haut; die glänzenden silbernen Schuppen blieben. General Cade Chandra war und blieb ein Seuchenträger, und der Planet war daher selbst für seine besten Freunde tabu, die wie ein Schwarm Milane einfallen würden, wenn man sie ließe. Man ließ sie aber nicht; man verbot es ihnen, de facto, mit massiver Drohung.

»Nach allem, was die Mediziner sagten, ist es nicht tödlich, Cade.«

Die Sonne hatte ihre Farbe geändert, war höher gestiegen und brannte kleiner, nicht mehr rot, sondern hellbernsteinfarben und grell. Cade stellte sich unter die Süßwasserdusche, trocknete sich ab und cremte sich mit der grünlichen Salbe ein, die aus jener Klinikpackung stammte, die zuletzt mit dem Versorgungscontainer abgeworfen worden war. Das leichte Kitzeln und Jucken hörte auf. Er zog sich ein dünnes Hemd und eine Hose an, schlüpfte in leichte Schuhe und betrachtete sich kurz im Spiegel, ehe er die Scheiben verdunkelte und die Tür schloss. Die Bilder vor den Monitorflächen gewannen an Schärfe und Deutlichkeit. Er betrachtete jede einzelne Aufzeichnung schweigend, analytisch und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit, bewegte die Hebel der Fernsteuerung und war, nachdem er an diesem Morgen einen flüchtigen Überblick gewonnen hatte, einigermaßen gewiss, dass die Desertifikation, die Verwüstung des Kontinents, wenn nicht des gesamten Planeten mit erschreckender Schnelligkeit weiterging. Nur eine Frage der Zeit – er selbst konnte so viele Narroptes nicht abschießen. Obwohl er sein Äußerstes tat.

Cade sah unzählige Bilder und viele lange Sequenzen. Er verstand vieles, aber längst nicht alles. Er fragte laut: »Soll ich mich heute rasieren?«

Die Musik war auch keine Antwort. Singh Boncards Driftwood Muzzack tobte sich im Wohnraum und im Radius von fünfhundert Orhun aus. Cade Chandra ließ seine Blicke über die grüne Umgebung gleiten und war nahe daran, sich selbst umzubringen. Er keuchte auf; Verzweiflung schüttelte ihn.

Eine Stunde später schlang er einen komplizierten Schifferknoten in die Halterung der Hängematte, schloss die Tür und rief die gespeicherten Aufnahmen der Bildschirme ab, die von den Optiken schwebender Informationskugeln gespeist wurden.

»Verfluchter Planet«, sagte er. In seiner Stimme entdeckte er angemessene Wut. »Was ist eigentlich wirklich los mit dieser Welt?« Er starrte, vorübergehend ratlos, durch die abgeblendete Panoramascheibe auf das Meer. »Wir befinden uns im Jahr 6402 nach der Zeitenwende, in der kalendarischen Rechnung der alten Erde«, sagte Cade im Selbstgespräch. »Terra hat von den Kriegen des Imperiums nur indirekt erfahren; der Planet produzierte weiterhin edle Weine, exzellenten Champagner, Post-Endzeit-Poesie und kluge Absolventen herausragender Universitäten.

Distanz, sagte schon der lang defunkte George Bernard Shaw, ist das Geheimnis der Kultur und Zivilisation. Von beiden habe ich jetzt mehr als genug! Wie auch immer: die dreieinhalb imperialen Jahrtausende des Imperiums fanden sowohl räumlich als auch zeitlich irgendwo am Rand des begreifbaren Kosmos‘ statt.«

Er musterte durch das dünne Glas den goldfarbenen Inhalt, roch daran und sprach, mit besinnlichem Gesichtsausdruck, langsam weiter.

»Es mag sein, dass Amourea und ich, nach all dem Hader, der vielfältigen galaktischen Gebresten, des Ärgers und aufregender Anstrengungen, uns auf die Erde zurückziehen. Oder auch nicht. Es wäre ein Rückzug in die Stille der Vita contemplativa, in behagliche geriatrische Ruhe. Aber …«, er lachte laut. »Bis dahin, Freunde, vergehen noch etliche Jahrzehnte. Immerhin bin ich auf Terra aufgewachsen, und was ich weiß und kenne, habe ich dort gelernt. Das meiste jedenfalls.«

Er schloss die Augen, hob das Glas und schnippte laut mit den Fingern; ein deutliches Zeichen, dass er noch lange nicht zu resignieren beabsichtigte.

 

Cade betrachtete wieder einmal die planetare Karte in modifizierter Mercatorprojektion. Etwa ein Viertel der Land- und Meeresflächen, deren Konturen scharf und exakt wiedergegeben waren, zeigte sich in maßstabgetreuen Höhenaufnahmen. Er wischte die verschwitzten Handflächen an der ausgeblichenen Leinenhose ab.

Der Planet litt. Cade war sicher, dass er die Vorboten eines planetenweiten Sterbens studierte; er betrachtete alles mit leidenschaftlicher Gründlichkeit und dokumentierte, was er sah und analysieren konnte, mit gewohnter Akribie; drei ausführliche Berichte hatte er bereits an Vance DuRoy gefunkt. Sieben Sonden, mit Objektiven und hochempfindlichen Mikrophonen ausgerüstet, beobachteten die Narontener-Siedlungen entlang der Küste, am Fluss und im Inneren des Kontinents.

Cade zog den Ausdruck unter dem Monitor hervor und griff nach dem Stift. Bevor er sich eine endgültige Meinung bilden und das Imperium zum Handeln auffordern konnte, fehlten ihm viele entscheidende Informationen. Schweigend las er seinen Analyseversuch, während Boncards Musik leiser wurde und verklang: Gräser, Büsche und selbst die Narontene-Daktiliferen begannen innerhalb weiter Bewuchsgrenzen großräumig abzusterben. Im Schösslingsstadium waren sie knöchelhoch; Pflanzen mit rundem, dickem Schaft und einundzwanzig Blättern, die sich wie weicher Farn nach allen Seiten auseinanderbreiteten. Die zarte junge Rinde und die Blätter wurden von den Narroptes zumeist völlig aufgefressen, ebenso wie die der Büsche und das Gras. Das nächste Stadium dieses Baumes, eine der weitestverbreiteten Pflanzen Narontenes, das junge, zwei oder drei Orhun hohe Bäumchen, litt nicht weniger an Wildfraß und Verbiss. Die Rinde, die sich in wenig harte Schuppen gliederte, war an vielerlei Stellen in langen Streifen abgerissen, in fast jedem Wald, den Cades Sonden erreichten.

Die obere Linie des Verbisses lag genau dort, wo sich die Zähne eines erwachsenen, aufgerichteten Narroptes befanden – außerdem hatte Cade Hunderte Male zugesehen, wie die Tiere fraßen. Harz trat an den Wunden der Gewächse aus, die Blätter und Wedel welkten an den Spitzen; die Daktiliferen trugen wenige oder keine Blüten, kaum Früchte, und den freiliegenden Teil der Wurzeln, dicht am Stamm, knabberten die Narroptes auch an.

Cade hob den Kopf.

»Bald werde ich’s genau wissen.«

Er griff nach der Waffe, als er die Huftritte hörte. Die Tiere hatten trotz seiner Schüsse keinerlei Scheu; die Fluchtdistanz betrug lediglich zwölf, fünfzehn Schritte. Ein Rudel Narroptes stob oberhalb seiner Behausung vorbei; zwei Männchen mit weit gekrümmtem Gehörn, etwa drei Dutzend Weibchen mit mehr als sechzig Jungtieren. Sie schienen sich zu vermehren wie die Fliegen.

»Ich muss die Fallen nachsehen.« Er zuckte mit den Schultern und setzte die Sonnenbrille auf und schnallte einige Ausrüstung um. In seinen Fallen wollte er die beachtliche Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Narroptes kontrollieren. Diese Tiere schienen keinen natürlichen Feind mehr zu haben. Er kletterte zum höchsten Punkt des kleinen Kaps, sah sich um und schoss zwei Böcke ab, die ruhig an den Schösslingen fraßen. Ein Vogelschwarm stob aus dem Wäldchen auf.

Als Cade die nächste Zigarette anzündete, schwoll hinter dem Hügel ein scharfes Pfeifen an, ein fauchendes Heulen. Die Daktiliferae schüttelten sich unter dem Luftdruck. Cade duckte sich und hörte den harten Donnerschlag des Schallknalls. Weidende Narroptes sprangen auf und rasten in wilden Zickzacksprüngen, winselnd und blökend davon. Ein grausilberner Koloss fegte durch die Luft, riss eine Gasse durch die palmwedelartigen Baumkronen, grub mit dem Kiel eine halborhuntiefe Furche in die Hügelflanke und schleuderte einen Teil der Zäune und Flechtmatten wie Strohhalme nach allen Seiten. Cade ließ sich fallen, riss den Arm vors Gesicht und wartete auf die Detonation.

Hinter dem Geschoss, einem spindelförmigen Raumboot, wirbelte die Sogwelle Gras, Pflanzen, Sand und Erde in die Höhe. Eine langgezogene Wand aus Dreck bildete sich. Ein faustgroßer Stein traf Cades Schulter. Splitternde Baumstämme knirschten, die Triebwerke heulten, eine chemische Bremseinheit zündete, das Raumboot taumelte und kippte auf die Felsplatte zu, auf der Cade seine rätselhaften kosmischen Hieroglyphen meißelte und einschmolz.

Cade fluchte und schrie: »Er bricht sich den Hals!« Eine furchtbare Ahnung durchzuckte ihn: Saß Amourea im Pilotensessel?

Die Narroptes aus den Fallen sprangen über ihn hinweg. Er schleuderte, ohne zu treffen, Steine hinter ihnen her, wirbelte herum und rannte auf den Punkt zu, an dem das zerbeulte Wrack endlich seinen kinetischen Impuls abgebaut haben würde. Das Kreischen der Bremstriebwerke riss ab, Cade hastete durch die Pulvergaswolke, stolperte und fiel in ein Stück Morast. Er hastete die Düne hinauf, hielt sich an Büscheln von Strandhafer fest und blieb stehen, als er den Strand sah. Das Boot lag zehn Orhun neben seinem Kanu am Ende eines tief eingerissenen Grabens rauchend und dampfend in knietiefem Wasser. An einigen Stellen schwelten kleine Brände.

Die Furche führte einige Armlängen an der Kante des Containers vorbei. Cade rannte hinunter; er war in Schweiß gebadet, der aus den Poren austrat und die Schuppen dunkel färbte. Er fluchte und rüttelte am Notverschluss der Schleuse.

Das Wrack war nicht zur zerbeult und zerschrammt, sondern im hinteren Drittel war ein dreißig Orra großes Loch, zweifellos von einem Geschoss oder einem energiereichen Strahl. Endlich konnte Cade mit dem Messer die Klappe aufhebeln, drückte den Knopf und sprang zur Seite. Die Explosionsladung schleuderte die eingedrückte und verkantete Schleusenklappe in den Sand. Cade zog sich ins Innere, kippte die drei Sicherheitshebel, und stemmte die innere Platte auf.

Links von ihm stöhnte jemand. Dann ertönte ein würgendes Husten. Rauch und Gestank nach schmorenden Geräten erfüllte den Hohlraum. Cade tastete sich zum Bug; nach drei Schritten, bei denen er mit der Stirn und dem Knie gegen Metall rammte, schaltete sich die orangefarbene Notbeleuchtung ein. Er sah die Schultern und den Hinterkopf eines Mannes, der sich aus einem Gewirr breiter Gurte und schlaffer Prallkörper herauszukämpfen versuchte. Cade schlug an der Trennlinie zwischen Pilotenkanzel und Laderaum einen Schalter mit der Faust hinein. Licht flammte auf. Cade erkannte seinen Freund Storzia. Mit zwei Schritten war er am Sitz, öffnete die Sicherheitsverschlüsse und sprang zurück.

»Storzia!«, brüllte er. »Du verrückter Gardist wärst beinahe noch ersoffen, mit gebrochenen Rippen, wie?«

Storzia Grur schwankte auf die Beine, schüttelte sich und hustete wieder. Rauchschwaden trieben durch die Schleuse hinaus. Cade dachte an die Psoriasis, ging noch zwei Schritte rückwärts und hob die Hände.

»Unrein«, sagte er. »Leprös. Komm mir nicht zu nahe. Verdammt schön, dich zu sehen – du wirst mir gleich erzählen, was dich hertreibt.«

Storzia rang nach Luft und sog zweimal durch die Atemluftmaske, ehe er zusammenhängend sprechen konnte. »Ich sollte Nachschub abwerfen, mir deine langen Gespräche anhören, einige Sendungen aufnehmen und überspielen, von allen lieben Freunden beste Grüße überbringen und dich fragen, ob das Imperium auf Narontene einen Stützpunkt einrichten kann. Stichwort: der Veränderliche Stern. Dazu ein Sammelsurium verwegener neuer Entwicklungen auf deinem Planeten! Und im zweiten Orbit, alle Kameras klickten und summten, hat jemand mit einem Kobaltlaserstrahl das Bötchen durchbohrt.«

Einige Aggregate arbeiten noch zufriedenstellend. Storzia schaltete mehr Lampen ein. Ein Gebläse jaulte auf. Die Männer musterten sich über die Kopfstützen des Sessels: Storzias Gesicht war rußig und blutüberströmt.

»Du hast es also nicht eilig«, sagte er und hütete sich, noch mehr Teile der Einrichtung anzufassen. »In meinem Blech- und Kunststoffbungalow habe ich einen Schutzanzug. Einen zweiten in Reserve. Den ziehst du noch hier an Bord an, und dann werden wir uns sogar die Hände schütteln können, klar, Storzia? Übrigens – ich bin natürlich höllisch froh, dass die Zeit der Monologe unterbrochen ist.«

»Komisch. Genau das, sagt deine weißhaarige Geliebte, würden deine ersten Worte sein.«

»Weißhaarig?« Cade schrie fast. »Seid ihr alle verrückt? Wie kommt sie dazu …?«

Storzia grinste schief. »Zuletzt war sie noch grauhaarig. Denkt zu viel an deinen silbernen Leib. Wird jetzt schon weiß geworden sein. Schönen Gruß von Zakhari.«

»Ist sie etwa wieder schwanger?«

Storzia nickte mehrmals; wahrscheinlich erwarteten sie Drillinge. Cade hob die Hand, verließ das Wrack und ging, nachdem er Ausrüstung und Waffe aufgehoben hatte, zum Wohncontainer hinauf. Der Schrecken saß tief in ihm; die Bewohner des Planeten mochten über das Mittelalter längst hinausgekommen sein, aber er war sicher, dass es auf Narontene weder Laserprojektoren noch Raumabwehrraketen oder Ortungsanlagen gab. Er klappte Schrankfächer auf und knurrte einen längeren Fluch.

»Überaus seltsam, Cade. Jetzt hast du zur Psoriasis astralis und deinen gehörnten Vielfraßen noch ein schönes Problem gratis dazubekommen.«

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