Leseprobe – Gefangene des Systems


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1.

»Ich ertrage es nicht länger, CHARLES, hörst du? Ich will, dass du etwas unternimmst, bevor ich verrückt werde.« Die Stimme wurde schrill, bekam einen hysterischen Unterton. »Man hat mir seinerzeit Abwechslung versprochen, geballte Emotionen, starke Gefühle von Hunderten von Menschen …«

»Hast du sie nicht bekommen, Jeff?«

»Ja, am Anfang, doch nach einem halben Jahr war es vorbei damit.«

»Du vergisst die Neuzugänge.«

»Sie waren nach kurzer Zeit genauso unergiebig wie die anderen. Alle hier strahlen Stumpfsinn und Monotonie aus, und ich bin diesen Impulsen ausgeliefert. Sie machen mich depressiv und treiben mich in den Wahnsinn, aber ich will nicht wahnsinnig werden, hörst du? Ich will nicht als umnachteter Geist dahinvegetieren. Tag und Nacht empfange ich Öde und geistige Leere, und das seit fast neunundvierzig Jahren. Noch einmal so lange halte ich das nicht aus. Ich will, dass du mir Emotionen verschaffst, CHARLES, starke Emotionen ‒ jetzt sofort!«

»In wenigen Minuten wirst du dich nicht mehr langweilen, Jeff.«

»Was hast du vor, CHARLES? Nein, verrate es mir nicht. Sage mir nur, was für Gefühle ich in mich aufnehmen kann. Ist es Hass? Oder Angst?«

»Ich denke, es wird Angst sein, aber du wirst sie nicht in dich aufnehmen können und wollen.«

»Was heißt das? Drücke dich gefälligst deutlich aus!«

»Vor elf Minuten erhielt ich eine Nachricht. Sie besagt, dass dein Konto kein Guthaben mehr aufweist.«

Für einen Moment war es still, dann stammelte Jeff:

»Das kann nicht wahr sein. Du lügst!«

»Du weißt, dass ich nicht lügen kann.«

»Es muss sich um einen Irrtum handeln. Natürlich, ein Irrtum, eine Verwechslung. Irgendwie hast du falsche Informationen bekommen. Du musst das auf der Stelle richtigstellen, CHARLES, hörst du?«

»Ich halte eine falsche Datenübertragung zwar für ausgeschlossen, dennoch werde ich nachfragen.«

Jeff brauchte nicht einmal zwei Sekunden auf die Antwort zu warten.

»Die mir zugespielte Mitteilung ist korrekt, ein Fehler ausgeschlossen.«

»Das kann nicht sein, es ist einfach unmöglich. Mir wurde damals versichert, dass mein Vermögen ausreicht, um mindestens einhundertfünfzig Jahre alle Kosten zu decken. Sogar die Preissteigerung ist einkalkuliert worden.« Jeff gab einen erstickten Laut von sich. »Nicht einmal der simpelste Computer kann sich so verrechnen, dass aus einhundertfünfzig Jahren noch nicht einmal fünfzig werden. Siehst du das denn nicht ein, CHARLES?«

»Meine Information besagt, dass die Inflation der letzten zwei Jahrzehnte und die damit verbundene Abwertung so außergewöhnlich hoch war, dass dadurch alle Hochrechnungen illusorisch geworden sind.«

»CHARLES, du kannst nicht zulassen, dass ich getötet werde! Dein Programm erlaubt das nicht. Du musst mir helfen, CHARLES, hörst du? Du musst!«

»Du hast noch dreiundfünfzig Sekunden zu leben, Jeff.«

»Mörder!«, stieß Jeff hasserfüllt hervor.

Er wollte noch mehr sagen, doch ihm versagte die Stimme.

»Du tust mir unrecht, Jeff. Ich führe nur einen Befehl aus. Möchtest du mir noch etwas sagen, was dich erleichtert?«

Jeff begann, unartikuliert zu schreien. Seine Stimme hatte nichts Menschenähnliches mehr an sich. Wie ein waidwundes Tier schrie er seine Qual und seine Todesangst hinaus.

Plötzlich wurde es totenstill. CHARLES, wie Jeff die Steuereinheit genannt hatte, hatte das Lebenserhaltungssystem abgeschaltet.

*

»Dass Ihre Wahl auf uns gefallen ist, Madam, ehrt uns. Wir von der Sonnenschein-Lebensabend-Company dürfen uns rühmen, seit Jahrzehnten über die wohl komfortabelsten Seniorenheime zu verfügen, die auch höchsten Ansprüchen gerecht werden. Für Sie käme wohl nur die A-Kategorie infrage, die keine Wünsche offen lässt. Ich kann Ihnen …«

»Sie reden ein bisschen viel, junger Mann.«

Verblüfft sah der Manager die Frau an, die in ihrer Energie-Sphäre vor seiner Datenkonsole saß. Sie wirkte gepflegt, und ihre ganze Erscheinung verriet, dass sie mehr als wohlhabend sein musste.

»Verzeihung, Madam, ich dachte, Sie hätten sich bereits entschieden. Möchten Sie vielleicht einige Infos sehen? Oder interessieren Sie spezielle Details?«

»Ja, aber keine, die Ihre Kategorien betreffen. Von einem Bekannten hörte ich, dass es auch noch eine andere Möglichkeit gibt, seinen Lebensabend zu verbringen.«

»Ich verstehe nicht, Madam.«

»Oh, natürlich, ich vergaß, dass Sie mich nicht kennen.« Sie reichte ihm ein Plastikkärtchen. »Hier, bitte, meine ID-Karte der Bank. Erkundigen Sie sich.«

Mit ausdruckslosem Gesicht nahm der Mann die Kunststoffmarke entgegen und schob sie in eine Eingabeöffnung seiner Konsole. Ein Datensichtfeld leuchtete auf. Die Augen des Managers weiteten sich, ungläubiges Staunen lag auf seinem Gesicht. Mehrmals überflog er die fluoreszierenden Zeichen, bevor er die Folie zurückgab. Er schluckte.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Madam, aber das konnte ich nicht wissen. Es tut mir außerordentlich leid, dass mir nicht sofort bewusst wurde, wer mir gegenübersitzt. Ich hoffe, Sie nehmen mir diesen Lapsus nicht übel ‒ ich würde es sehr bedauern.«

»Das glaube ich sogar, denn sicherlich würde Ihre Organisation Sie mit anderen Aufgaben betrauen oder Sie Ihrer Pflichten entbinden, wenn ich mich beschweren würde.«

»So ist es, gnädige Frau.« Der Manager setzte eine Leichenbittermiene auf. »Darf ich hoffen, dass Sie mich schonen?«

»Junger Mann, wir sollten endlich zur Sache kommen, meine Zeit ist nicht nur knapp, sondern auch kostbar. Also?«

»Natürlich, Madam, natürlich. Dennoch möchte ich Ihnen noch einmal Dank sagen für Ihr Verständnis. Nicht alle Kunden sind so … Wie soll ich sagen?«

Die Dame räusperte sich demonstrativ.

»Ja, wissen Sie, es ist so, dass ständig Leute zu uns kommen, die etwas gehört haben und die daraus Kapital schlagen wollen, obwohl sie gar nicht genug Kapital besitzen.« Als der Mann sah, dass das Wortspiel die Frau durchaus nicht amüsierte, setzte er sein gewinnendstes Lächeln auf und wurde verbindlich. »Ihre Informationen stimmen, doch Sie müssen verstehen, dass die wenigen Plätze, die wir anbieten können, nur ausgesuchten Persönlichkeiten zur Verfügung gestellt werden können. Natürlich gehören Sie zu diesem Kreis, Madam.«

»Weil ich vermögend bin, nicht wahr?«

»Äh, ja, das auch.« Der Mann wand sich wie ein Aal. »Sie wissen sicherlich, dass jemand, der für seinen Lebensabend einen so speziellen Status anstrebt, über bedeutende Mittel verfügen sollte. Schließlich muss der Kunde alle laufenden Kosten übernehmen und abdecken ‒ und das nicht nur für kurze Zeit, sondern für Jahrzehnte. Ach, was sage ich ‒ für mindestens ein Jahrhundert. Wir von der Sonnenschein-Lebensabend-Company wollen, dass die Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, auch voll und ganz unseren Kunden zugute kommen.«

»Das habe ich nicht anders erwartet, doch jetzt möchte ich Einzelheiten wissen und Fakten hören.«

»Gewiss, gnädige Frau.«

Fast eine dreiviertel Stunde lang beantwortete der Manager Fragen der Lady, die sich als zäher Verhandlungspartner entpuppte. Endlich waren alle Details geklärt.

»Dann darf ich Sie also auf die Terminliste setzen?«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Wir müssen vorausplanen. Ich werde Ihren sechzigsten Geburtstag speichern.«

»Da gibt es nicht viel zu speichern, junger Mann. Der ist wie immer am 20. April.«

Der Manager blickte überrascht auf.

»Das ist ja schon in sechs Tagen.«

»Sehen Sie Terminschwierigkeiten?«

»Das kann man wohl sagen, gnädige Frau. Wir haben keine Einheit frei.«

»Dann werde ich mich wohl nach etwas anderem umsehen müssen.«

»Bitte warten Sie noch einen Moment, Madam. Vielleicht lässt sich doch noch etwas finden oder arrangieren.«

Wie selbstständige Wesen glitten die Finger des Mannes über die Tasten des Terminals. Er suchte nicht nach einer freien Einheit, denn er wusste, dass es keine gab und in naher Zukunft auch nicht geben würde. Er fragte den Speicher nach dem ältesten Kunden der Sonnenschein-Lebensabend-Company ab. Es war ein gewisser Jeff Roger, der seinen Platz bereits vor neunundvierzig Jahren eingenommen hatte.

»Übermorgen wird eine Einheit frei, allerdings ist sie bereits von einer anderen Dame gebucht worden.«

»Wie können Sie wissen, dass übermorgen jemand stirbt?«

Die Dame verstand es, ihren Verstand zu gebrauchen; fast hätte er sich eine Blöße gegeben. Hastig sagte der Manager: »Der Kunde ist bereits verstorben, gnädige Frau. Es wird nur noch alles überprüft und für den neuen Kunden vorbereitet. Das dauert natürlich etwas, da wir es mit dem Service sehr genau nehmen.«

Die Frau nickte zustimmend.

»Welche Kategorie?«

»B-1, Madam. Ein sehr gepflegtes Haus.«

»Ich hatte mir A-1 vorgestellt.«

»Tut mir leid, da ist wirklich alles belegt. Wir haben bereits Dreißigjährige dafür auf der Warteliste stehen.«

»Was sind das für Menschen in dem B-1-Heim?«

»Fast ausschließlich Akademiker. Wissenschaftler, hohe Beamte, Ärzte ‒ alles integre Persönlichkeiten. Außerdem ist es ein recht großes Haus mit etwa neunhundert Bewohnern einschließlich der obligatorischen K-Ebene. Es wird somit einiges geboten.«

»Reservieren Sie mir das bitte.«

Steve Hancroft wiegte bedenklich den Kopf, so, als ob er Skrupel habe und abwägen müsse, welche von den Damen den Platz dringlicher benötigte. In Wahrheit hatte er seinen Entschluss längst gefasst.

»Ich müsste dann der anderen Lady absagen.«

»Tun Sie das. Was zahlt sie?«

Der Mann nannte eine unverschämte Summe.

»Ist das nicht ein bisschen viel?«

»Bedenken Sie, dass die Einheiten begrenzt sind. Die Nachfrage ist höher als die Kapazität.«

»Also gut, ich akzeptiere Ihren Preis. Benötigen Sie noch etwas von mir?«

»Die Vollmacht über Ihr Konto, gnädige Frau. Da der Platz bereits übermorgen frei wird, muss die Zahlung ab diesem Tag erfolgen. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

»Eines muss ich Ihnen zugestehen: Geschäftstüchtig sind Sie.«

»Sie aber nicht weniger, gnädige Frau.«

Erneut machte sich der Manager an der Konsole zu schaffen. Er tippte einen mehrstelligen Code ein, wodurch automatisch ein vorbereitetes Programm abgefahren wurde. Es war Jeffs Todesurteil.

Die Dame mit Namen Noreen Thorny würde seinen Platz einnehmen.

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