Leseprobe – Das zweite Imperium der Menschheit


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1.

JANUAR 3781: »Welch eine Kostbarkeit!«, flüsterte Garry. Das Fundstück war siebenhundert irdische Normjahre alt; eine Doppelaxt, deren Schneiden in der Helligkeit glänzten. Die halbmondförmigen Hälften wurden durch ein vergoldetes Mittelstück zusammengehalten. Den Abschluss des Griffes bildete ein großer, gefasster Halbedelstein. Ein spiralförmiges Spruchband, das man mit irgendeiner Säure imprägniert hatte, umzog den Schaft aus Hartholz. Nur so war es möglich gewesen, dass dieses Material seit dem letzten Tag der Geschichte Chi Sakkaras nicht zerfallen war.

Garry Viper, auf Ninive, Sagitta V, geboren, war zwei Meter groß und hatte einen schlanken, schwarzen Körper. Sein Haar war nicht länger als vier Millimeter und fast weiß. Er saß in der Forschungsbaracke unter einer grellen Speziallampe und drehte das Fundstück in den Händen.

Er war der Chef des Teams von sieben Männern. Sie kamen aus allen Teilen des Imperiums und waren ausgesucht worden, weil sie, obschon Altertumsforscher, keine Spezialisten waren. Jeder von ihnen konnte die Aufgaben eines anderen übernehmen, wenn es darauf ankam. In den zwei Jahren ihrer Gemeinschaft hatten sie sich zu einem ausgezeichneten, leistungsfähigen Team zusammengefunden. Der besondere Reiz lag in der absoluten Verschiedenheit der Charaktere. Sie stritten – auf streng wissenschaftlicher Basis – häufig, aber jeder stand ohne lange zu überlegen für den anderen ein.

Ussarnesar, der Herr, stehe mir bei in allen meinen Kämpfen.

Das war der Text des Spruchbands, das Garry in mühevoller Arbeit vom Sand gereinigt hatte, der sich im Lauf von siebenhundert Jahren darauf angesammelt hatte. Er versah das Band mit einem Schild aus Plastik, das den Tag des Wiederauffindens trug, den Namen des Forschers, unter dessen Obhut es ausgegraben worden war, und den Namen der alten Kultur.

Die Streitaxt wurde neben andere Funde gelegt, von denen jedes einen ungeheuren ideellen Wert darstellte.

Außer Garry befand sich noch Jorge Andreatta in der Forscherbaracke. Andreatta, von Terra, hätte der jüngere Bruder Garrys sein können – nur die Farbe der Haut und des Haares unterschied die hoch gewachsenen Männer voneinander. Viper war einer der besten Archäologen, über die Sagitta, Ninive V, verfügte. Andreatta kam von einer der führenden Universitäten Terras, von Mars Technica. Es gab wenig praktizierende Forscher, die ähnliche Erfolge in der biologischen Beurteilung von Dingen um gestorbene Kulturen aufweisen konnten. Andreatta sah vom Mikroskop auf und blickte durch eines der großen Fenster, vor denen man die Blenden geöffnet hatte.

Sandiges Purpur brandete in den Raum. Nachdem es die Dünen in glimmende Wogenkämme eines Sandmeers verwandelt hatte, griff es nach den weißen Mauern aus Marmor, die unter der Plattform des Turmes in den Himmel ragten. Weit über ihnen leuchtete die silberne Kugel auf, das Herrscherzeichen der Fürsten Sakkaras.

Die Sonne ging hinter dem Horizont unter wie eine verhalten glühende Kugel aus Purpur, uralt wie der Sand dieses Planeten. Sand war hier alles; die wenigen Pfade vom Schiff in die Unterkünfte, vom Schiff zur Stadt und von der Stadt zu den Baracken. Sand unter den Sohlen und Sand zwischen allen Papieren. Überall hatte der feine, rötlichweiße Sand sich eingeschlichen – noch verschonte er die Kombüse des Raumschiffs. Sand auch noch im Essen hätte die Leute wahnsinnig gemacht.

Auch die Ausgrabenden hatten über denselben Feind zu klagen. Er lag auf ihren Leibern, die im Licht der untergehenden Purpursonne leuchteten. Das Heer der Roboter, wendige Maschinen, nur für diesen Zweck konstruiert, war Tag und Nacht beschäftigt.

Sie räumten seit elf Monaten Massen von Sand aus der versunkenen Stadt fort. Eine Feldbahn unterstützte sie dabei und fuhr ihn in Loren aus der Siedlung, um ihn draußen in der Wüste auszukippen. Maschinen und Sand-Schirme waren aufgebaut worden, um das weitere Vordringen der Wüste aufzuhalten. Die atombetriebene Lokomotive ratterte die ganze Nacht auf den schmalen Schienen. Sie arbeitete ebenso vollautomatisch wie die Roboter und verlegte ihre Schienen auf die notwendigen Kommandos hin selbsttätig. Die Wolke aus Motorenöl und Staub war den ganzen Tag über Sakkara zu sehen, jetzt rötete sie sich und löste sich auf. Der nächtliche Wind setzte ein und wirbelte Sand hoch.

»Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf vor Müdigkeit. Endlich weiß ich, womit sie ihre Töpferwaren glasierten und verzierten.«

Jorge schaltete die Beleuchtung unter dem Mikroskop aus und schwang seinen Sessel herum. Garry lächelte geduldig.

»Hoffentlich bringt dich diese Erkenntnis ins Bett, verschafft dir tiefen Schlaf und mir die Ruhe. Man müsste dich von Zeit zu Zeit von der Arbeit wegprügeln.«

»Du kennst mich lange genug, Garry. Du weißt, dass ich eine Sache gern in einem Zug hinter mich bringe«, antwortete Jorge Andreatta wenig beeindruckt. »Morgen früh würde ich keine rechte Lust mehr haben. So kann ich stattdessen den Abschlussbericht über die Keramik Sakkaras abfassen.«

»Natürlich, du hast recht.«

Garry holte ein Buch und spannte den Chip in die Maschine ein, die den Text auf einen Monitor von beträchtlicher Größe projizierte. Das Original des Buches lag in einem Safe im Zentrum des Zweiten Imperiums – auf Terra; über eine Million Kredite wert. Der Wert würde steigen, wenn Garry Vipers Expedition erfolgreich zurückkehrte.

Jorge Andreattas Züge drückten deutlich die Erleichterung über diese Feststellung aus. Sie waren seit fast einem irdischen Jahr hier auf Khorsabad, und gruben. Die vergleichsweise antike Ausrüstung hatte ein großzügiger Spender, eine Minengesellschaft, der Universität geschenkt. Sie freuten sich auf die Erde.

»Hoffentlich sind wir bald in der Lage, zu verkünden, dass die Stadt völlig ausgegraben ist. Ich sehne mich danach, den letzten Film abzudrehen, einige hundert Reihenfotos zu knipsen und endlich diese Sandwelt zu verlassen.«

»Wir sind noch lange nicht fertig. Wenn wir den Boden der Stadt erreicht haben, fangen die Komplikationen erst an. Ich habe ein eigenartiges Gefühl, kann es aber nicht genau in Worte fassen«, sagte Garry mürrisch.

Er drehte die Linse ein und schaltete die Lampe über seinem Kopf aus. Die Sonne war untergegangen, im Raum wurde es dunkler. Nur der Monitor und der Kegel von Jorges Tischlampe erhellten Teile des großen Tisches. Garrys Maschine surrte.

»Liest du schon wieder?«, wollte Jorge wissen.

»Nun, ich vertiefe meine Kenntnisse über Sakkara.«

»… begann, ein gewaltiger Herr zu werden auf der Welt. Seine Taten waren groß, und immer größer wurde seine Macht. Sein Glanz überragte alle Menschen, und er beschloss, eine Stadt zu bauen. Wo Fluss, Wüste und Steppe sich trafen, im Morgen-Schatten der Berge, sollte sie stehen. Er ließ Heere ausschwärmen, Steine zu brechen, zu behauen und herbeizuschaffen und Mauern daraus zu türmen. Man schuf die große Mauer in drei Jahren, der Segen des Mächtigen ruhte über ihrem Streben. Breit wurden die Mauern. Dann wurde der Fluss um sie geleitet, und siehe, die Mauern standen und waren höher als der höchste Baum und breit, dass Streitwagen darauf fahren konnten. Selbst Er schlug dort sein Lager auf und sah die Arbeit. Fünfzehntausend Fuß maß die Stadt im Durchmesser, und sie trennte Wüste von Wald …«

»Seit zwei Jahren beschäftige ich mich mit dem Buch, Jorge. Wir säßen heute nicht hier, wenn ich nicht das Original übersetzt hätte.« Garry Viper sprach, ohne den Kopf zu wenden. »Es ist nicht so, dass mir nur der altertümliche Text imponiert – obwohl er eine Sache für sich ist. Die Übersetzung vermag außerdem nur einen Bruchteil der natürlichen Sprachschönheit wiederzugeben. Ich möchte nicht mythologisch werden, aber wenn man sich jahrelang mit Schriften, Funden und ähnlichen Relikten herumschlägt, bekommt man ein gewisses Gefühl für zu erwartende Überraschungen. Es ist etwas in dieser Stadt, das wir nicht kennen und viel weniger vermuten. Denke an das, was ich heute sage. Du wirst es bestätigt bekommen.«

Garrys kehlige Stimme schwieg erschöpft. Viele Bewohner Ninive Sagittas hatten etwas, das man gemeinhin mit dem sechsten Sinn bezeichnen konnte. Aber sie bezogen dieses eigenartige Können nicht aus erarbeiteten Fakten, sondern es war ihnen als Eigentümlichkeit ihrer Heimat mitgegeben worden, so wie die Begabung für Sprachen den Planetariern der Achernarplaneten.

 

Die Forscher arbeiteten in der Stadt, von der das Buch berichtete. Es war die einzig bedeutende Stadt des Planeten Khorsabad. Das Buch nannte sie Chi Sakkara. Und Ussarnesar-apper war der Gewaltige, der sie erbauen ließ. Seine Linie war es, die dreihundert Jahre lang diese Welt beherrschte. Dann wurde sie von etwas abgelöst, das so einmalig war in der Geschichte eines Planetenvolkes, dass die Männer des Teams gedacht hatten, sie träumten.

Sie verglichen den Text des Buches mit den Funden und sahen, dass jede Zeile des Buches mit ihren Forschungen übereinstimmte. Jeder Tag und jedes neue Fundstück bestätigte ihre Annahmen. Sie hatten mehr gefunden als jedes Forscherteam auf jedem anderen Planeten des Imperiums. Und daran war der Sand schuld. Er hatte nicht zerstört, sondern nur verschüttet und vor Korrosion und Zerfall geschützt; unzählige Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Kultgeräte und zerfallene Kleider in knochentrockenen Kisten und Truhen. Sie waren in den Häusern herumgekrochen und hatten Aufnahmen und Radiokarbontests gemacht. Und immer war die verschollene und durch einen Zufall wiederentdeckte Handschrift dabei ihr Führer und die genaueste Chronik der Stadt, die sie sich wünschen konnten.

Aber sie war nicht vollständig. Als das Ende der Kultur näher gekommen war, hörte der unbekannte Chronist auf, Ereignisse und Daten festzuhalten – oder er starb. Niemand fand sich, der das Buch weitergeschrieben hätte. Es wurde vor acht Jahren von einem Vermessungsschiff gefunden und zur Erde gebracht, wo man es Viper übersetzen ließ.

Die Maschine ENIGMAs, von den Wissenschaftlern UNIGRYPH getauft, kannte alle Sprachen der Erde, desgleichen alle Schriften und Zeichen, die jemals entdeckt und aufgeschrieben wurden, und alle bekannten Übersetzungsarten. Jederzeit konnte ein Text aus der Keilschrift in Sekundenschnelle in einen Tibetanischen Dialekt übersetzt werden und zurück in die Terranische Universalsprache oder in Transterranisch. Es war möglich, neue Schriften zu entziffern, aber man musste vorsichtig sein. In der Möglichkeit, Gedachtes oder Gesagtes niederzuschreiben, einzumeißeln oder aufzumalen, waren der Variationsbreite Grenzen gesetzt. Verschiedene Symbole blieben gleich, ob es sich um Nahrung der alten Ägypter handelte oder um Nahrung von Wegaplanetariern; oft fand man ähnliche Zeichen. Außerdem konnte die Maschine kombinieren, und sie tat es auch.

So legte man dem UNIGRYPH einen fotografierten Text des Buches vor und wartete zwei Tage. Danach stanzte der Schnelldrucker in Plastikfolie die Worte der terranischen Umgangssprache. Außerdem hatte die intelligente Mechanik von UNIGRYPH versucht, die merkwürdige, an der Art alter Auslegungen des Buches der Bücher orientierte Schreibweise zu rekonstruieren, mit dem Erfolg, dass die Worte des Khorsabadbuchs biblischem Klang entsprachen.

Fünfhundert Jahre geschriebene Geschichte der Stadt Chi Sakkara deckten sich mit den Funden des Teams. Aber die letzten hundert Jahre waren abgetrennt und mussten mühsam rekonstruiert werden.

Das Raumschiff war voll wertvoller Fundstücke und würde noch mehr aufnehmen müssen. Aber die Männer waren mit ihrer Arbeit noch lange nicht fertig. Sollte es noch ein Jahr dauern, bis sie hier die Forschungen abschließen konnten?

»Wir stehen praktisch mitten in einer fast vollständig erhaltenen Stadt von über fünfhundert Metern Durchmesser. Jedes Haus und jeden Tempel kennen wir bis in die letzten Winkel und wissen über jeden Brauch Bescheid. Meinst du, dass uns noch Überraschungen bevorstehen?«, sagte Jorge Andreatta nicht zum ersten Mal.

»Gewiss, der Kult um Mordok ist noch nicht entschleiert, weder seine Herkunft noch seine Auswirkung«, antwortete Garry. »Aber das Ende dieser Kultur und mit ihr des intelligenten Lebens ist Bestandteil der Herrschaft Mordoks. Wie lange arbeiten wir zusammen?«

»Drei Jahre. Seit dem Tag, als wir als Archäologen aufbrachen und auf Cedar VII schürften. Unser erstes Feld. Wir fanden nicht viel, aber wir konnten alles entschlüsseln. Unser erster Erfolg.«

»Byblun auf Cedar war eine plötzlich gestorbene Kultur. Sie starb durch einen Angriff von außen – ebenso wie fast alle anderen, die wir ausgruben. Dies ist die erste Hochkultur, die sich von innen derart zersetzte, dass sie enden musste. Deshalb beharre ich hartnäckig auf einer intensiven Suche. Wir müssen auch den Rest schaffen«, gab Andreatta zurück.

Sicher war, dass die Wahrscheinlichkeit bestand, noch einiges zu entdecken, von dem man sich Hinweise auf die letzten Jahre Sakkaras erwarten durfte. Andreatta, der Biologe, lächelte, als er zurückdachte. Sie hatten damals mit viel Eifer und jungendlichem Feuer gegraben und Reste einer Höhlenkultur von merkwürdiger Schönheit entdeckt – als ob intelligente Wesen sich mit einfachen Geräten zum Überleben hätten einrichten müssen, fern von der gewohnten Umwelt.

Sie waren bekannt, wenn nicht berühmt geworden. Aber daran lag ihnen nur insofern, als sie dadurch Unterstützung und Finanzierung ihrer Expeditionen erlangen konnten. Sie gruben nicht, um bekannt zu werden, sondern sie waren von der gleichen Arbeitswut besessen wie schon ihre antiken Vorgänger, die auf Terra gegraben hatten. Koldewey, Schliemann, Sir Arthur Evans und Champollion.

Garry ließ den Drehstuhl herumschwingen und brannte eine Narkorette an. Es wurde kühl in dem Raum, und mit einem Handgriff schaltete der Chef die Heizung an.

»Dies ist wahrscheinlich nicht nur das erste, sondern auch das letzte Mal, dass uns Gelegenheit geboten wird, eine in sich geschlossene Kultur von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende zu verfolgen. Drei Viertel des Weges haben wir zurückgelegt, das letzte Viertel schaffen wir auch noch.«

»Ich zerbreche mir seit drei Monaten den Kopf«, entgegnete Garry, »und bin sicher, dass die anderen es auch tun, wie Mordok und die Katastrophe miteinander in Einklang zu bringen sind. Es muss zuletzt sehr schnell gegangen sein. Von der Art des Untergangs haben wir keine Ahnung. Und die wenigen Skelette, die wir erhalten fanden, geben uns ebenfalls keinen Hinweis. Sie weisen keine Verletzungen auf, die auf gewaltsamen Tod schließen lassen.«

Nachtwind kam auf und wimmerte um die Wände des Kunststoffwürfels des Forschungsgebäudes. Es stand innerhalb einer winzigen Siedlung aus sechs Hütten.

»Ich konnte mit Hilfe des Buches«, Garry sah Andreatta nachdenklich an, »die Fakten vergleichen. Es ist, wie die Genesis von Terra, eine Art Entwicklungsgeschichte. Alles bis zum Ende der Kultur – genauer bis zu Mordok – ist geklärt. Wenn du morgen deinen Keramikbericht abgefasst hast, haben wir bis zu diesem Zeitpunkt Klarheit und können den ersten Teil abschließen. Wir gehen in ein neues Stadium.«

Jorge Andreatta stand auf und dehnte schläfrig seine Muskeln.

»Und ich gehe ins Bett – oder was allgemein dafür gilt«, sagte er. »Die nächste Expedition jedenfalls wird mit anderen Liegestätten ausgerüstet. Ich schlafe von Nacht zu Nacht schlechter; daran ist bestimmt nicht Mordok schuld. Sind die anderen schon wieder zurück?«

»Es hat sich noch niemand gemeldet. Sie werden, denke ich, morgen gegen Mittag zurückkommen und erst ausschlafen wollen. Bis dann! Ich mache noch weiter.«

Andreatta nickte seinem Freund zu und riss die Tür auf. Draußen hatte der ewige Wind nachgelassen. Nachtwolken zogen über das ferne Band der Milchstraße. Die Tür schob sich knirschend in die Fugen zurück. Im Zurückblicken hatte Jorge gesehen, wie sich Garry über seine Lesemaschine beugte und die Linse einschaltete. Der Text lief weiter.

»… und er kam und zeichnete im feuchten Sand, wie die Stadt gebaut werden sollte. In Ton wurden die Häuser geschaffen, der Tempel und der Turm Sakkaras. Die Arbeiter begannen, und es wuchs die Stadt zur größten und mächtigsten der Welt. Ein Volk arbeitete an ihr, und alles, was sie taten, glänzte von Gold und anderer Pracht, so es schien wie zwei Sonnen – eine am Himmel und die andere im Morgenschatten der Berge Chis …«

Zweihundert Meter von den Hütten entfernt sah die planetare Nacht anders aus. Hier brannten Tiefstrahler, die weite Kreise der Stadt zu nächtlichem Leben wiedererweckten. Die silbernen Körper der Roboter schimmerten in der Dunkelheit. Zweihundert Wesen, menschenähnlich bis auf die spezialisierten Werkzeuge, gruben eine Kultur aus, die untergegangen war, als die ersten Roboter auf Terra zu funktionieren begannen.

Die Feldbahn zwischen der Stadt und einem Feld in der Wüste summte auf den schlangenförmig verlegten Gleisen. Jorge wandte seinen Blick von der Stadt. Er betrat seinen Raum in der Personalbaracke. Das Zimmer enthielt neben einem Fenster, dessen Blenden jetzt zugefahren waren, nur einen Schrank mit einer Schreibplatte, auf der die Computer und Aufnahmegeräte standen, einen bequemen Kontursessel und eine Liege. Andreatta zog sich aus, wusch sich flüchtig und legte sich hin. Im Schein der Lampe betrachtete der Biologe noch einmal die Herrscherliste Sakkaras und die Namen, die in kleinen Feldern inmitten des komplizierten Stammbaums prunkten.

Takolti-apalescaro, der erste Hirtenkönig, der die Volksstämme des Grenzlands vereinigte. Er zwang durch Klugheit und wirtschaftlichen Weitblick Hirtenvölker, streifende Nomaden und ackerbestellende Dorfbauern in die Gemeinschaft eines vielgestaltigen Stammes und machte sich zu dessen Herrscher.

Sein leiblicher Sohn, Ussarnesar-apper, sein einziger, wie das Buch wusste, gezeugt mit einer fremden Sklavin, war der nächste in der Hierarchie. Er betrieb klug die Politik wirtschaftlicher Stärke und sorgte für das Wohlergehen der Menschen. Er ließ Flüsse des Landes kultivieren und Häfen anlegen. Handel und Reichtum begannen in einem organischen Prozess aufzublühen und zu wachsen.

Sanaccho-oreb folgte, dessen Sohn die kleinen Fürsten beseitigte und sie zu Beamten des Hofes machte. Sie weiteten die Grenzen des Landes, besiedelten es und brachten Sklaven ein, die arbeiteten und für die Herrlichkeit des ersten Königs sorgten, der noch folgen sollte.

Usserheddan war der erste König, genannt Der Mächtige. Tausende arbeiteten unter seiner Regie an der Erstellung der Großstadt Chi Sakkara. Innerhalb von zehn Jahren brachte der König es fertig, die Stadt zu bauen und zu befestigen, den Strom umzuleiten und einen Hafen zu schaffen. Er nahm die Führung dieser neuen Macht selbst in die Hände. Sein Verstand und seine Klugheit mussten für die damalige Zeit beträchtlich effizient sein.

Dann wechselte die Regierungsform, und ein Götze wurde das Symbol alles übersteigender Gewalt. Eine Kaste von Priestern regierte nach Usserheddan weiter, nicht weniger wirkungsvoll als der König. Aber sie verehrten keinen Menschen mehr: Die Gottheit, von der die Forscher zahlreiche Abbilder fanden, änderte ihr Aussehen, bis sie zuletzt den Ausdruck einer vermenschlichten Großkatze trug.

Die Priester wurden für eine kurze Zeit von Atamoniris abgelöst, einem Nachkommen des letzten Königs. Er versuchte, die monarchistische Regierungsform wiederherzustellen, wurde durch den Widerstand des Volkes daran gehindert und verschwand von der Bühne der Oberschicht.

Dann kam Mordok. Mordok – der Gott des Untergangs.

Ich werde unter ihnen sein wie ein Komet, hell in der Nacht und mächtig in meiner Kraft. Ich werde sie führen zu meinem Glanze, und meine Strafen werden groß sein und fürchterlich mein Zorn. Ich werde herrschen eine Zeit und zurückkehren in die Nacht, und ein neuer Komet wird kommen und leuchten.

Dieser Spruch war unter jedem Abbild Mordoks zu lesen.

Mit dem zornig-verschlagenen Katzengesicht Mordoks vor Augen und im Sinn, schlief Jorge Andreatta ein. Wie würde er erwachen, wenn er plötzlich mit den Ereignissen konfrontiert würde, die sich irgendwo unter der Stadt vor sechshundert Jahren zugetragen hatten und die von Garry schemenhaft geahnt wurden?

 

Garry Viper las weiter. Er flüsterte:

»… und an dem Turm bauten sie dreißig Mal sieben Tage. Dann war er groß und mächtig, und die Künstler brachten Bilder an und schilderten die Taten des Mächtigen. Sie schufen Bilder aus Elektrum, Kupfer, Gold und Glasfluss. Das Leben in des Mächtigen Stadt wurde geschildert, und der Turm war wie eine Flamme unter dem Sonnen! Man konnte ihn sehen von den Bergen Chis …«

Seit dem Ende dieser Kultur hatte nur eine einzige Kraft an den Gebäuden genagt – der wandernde Sand. Aber indem er zerstörte, konservierte er auch. Der Sandsturm verschüttete nicht nur das Bett des Flusses, der sich um Sakkara herumzog, sondern er füllte auch die Prunkstraße und die Höfe der Tempel.

Unmengen feinen, rötlichen Sandes kamen aus der Wüste, die so alt war wie der Planet. Immer höher wuchsen die Dünen, schlichen sich durch die Tore und begruben lautlos die Stadt. Kein Leben stellte sich ihnen entgegen. Der Wald starb, vom Sand völlig bedeckt. Die Stadt war tot und begraben. Nur noch die Ziggurah von Chi Sakkara stand einsam in der Wüste. Die silberne Plattform zwischen den vergoldeten Säulen blinkte im Sternenlicht.

So fand sie ein ENIGMA-Beiboot, dessen Crew neue Planeten suchen sollte. Die Männer wollten das Sonnenbanner der Erde weit hinaustragen in den Raum. Nichts, was über Kleinformen tierischen Lebens hinausging, lebte auf dieser Welt. Das Imperium legte seine Hand auf Khorsabad. Bei einer späteren Landung sahen die Männer des schnellen Forschungskreuzers den Schatten des Turmes und schickten ein Kommando aus, das Innere zu erforschen. Nachdem sie die Plattform fotografiert und staunend die fremdartigen Tiere, Menschen und Symbole bewundert hatten, gelangten sie zu der Wendeltreppe und tasteten sich hinter den Strahlen ihrer Lampen hinunter ins Dunkel, das nach Moder, Schutt und geheimnisvoller Geschichte roch.

Sie kamen in den Zeremoniensaal in der Mitte des Turms. Damals lag noch Sand in den Fenstern. Sie sahen den Altar Mordoks, entdeckten die Kiste aus Metall und Glasflussornamenten und brachten sie ins Schiff. Dort wurde sie geöffnet, das Buch wurde gefunden.

So kam die Gruppe um Garry Viper, den Sagittaner aus Ninive, zu ihrem neuen Auftrag

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