»Die Ungeborenen kommen!«, gellte es durch die Straße.
In die zerlumpten Gestalten, die in Toreingängen und Häusernischen lagerten, kam Bewegung. Sie rafften Decken und Mäntel zusammen, griffen nach ihren Schnapsflaschen und torkelten davon.
»He, wach auf!« Der alte Bettler rüttelte seinen Kumpan an der Schulter. »Die Ungeborenen kommen!«
Das Schnarchgeräusch des betrunkenen Mannes verstummte. Er schmatzte mehrmals, dann schnarchte er weiter.
»Du musst aufstehen, Gaukler, sonst sperren sie dich ein!«
Der Alte packte den Schlafenden am Arm und zog ihn hoch. Mit der freien Hand gab er ihm einen Klaps auf die Wangen. Der Gaukler schlug die Augen auf.
»Wo bin ich? Warum weckst du mich?«, fragte er mit schwerer Zunge.
»Die Ungeborenen kommen«, brabbelte der alte Mann. Er setzte die Schnapsflasche an den Mund und trank. »Wir müssen verschwinden.«
»Gib mir auch einen Schluck!«
Bereitwillig reichte der Alte dem Gaukler die Flasche. Dieser nahm einen tiefen Zug und wischte sich dann über den Mund. »Was kümmern mich die Ungeborenen? Ich will jetzt schlafen.«
Der braunhäutige Mann ließ sich mit der Flasche im Arm zurücksinken. Plötzlich fuhr er hoch.
»Was redest du da? Ungeborene?«
»Ja, Ungeborene.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Komm endlich, wir müssen weg!« Der Alte reichte dem anderen die Hand und half ihm auf die Beine.
»Ich kann schon ihre Schritte hören.« Der Gaukler rülpste ungeniert und setzte sich in Bewegung. Mit unsicheren Schritten tappte er die Straße hinunter. Der alte Mann eilte ihm nach und hielt ihn am Ärmel fest.
»Das ist die falsche Richtung.«
»Wieso ist das die falsche Richtung?«, lallte der Vagabund.
»Weil du ihnen so direkt in die Arme läufst.«
»Woher willst du das wissen?«
»Kommst du jetzt mit oder nicht?« Der Gaukler wackelte unschlüssig mit dem Kopf.
Da bogen zwei Medorobots um die Ecke. Der Alte stieß einen spitzen Schrei aus und rannte davon.
»Warte auf mich!«, rief der andere hinter ihm her, aber der Bettler hörte nicht. Es galt, die eigene Haut zu retten.
»Halt, bleiben Sie stehen!«, riefen die Automaten.
Ohne anzuhalten, blickte der alte Mann sich um. Die Medos waren etwa dreißig Schritte entfernt. Er hatte gute Aussichten, ihnen zu entkommen. Für den Gaukler standen die Chancen bedeutend schlechter.
Der Bettler keuchte, sein Atem ging stoßweise. Allmählich wurde ihm die Lauferei zu viel. Es verging kaum ein Tag, an dem er nicht flüchten musste, weil die Gesundheitsmaschinen Jagd auf Alkoholtrinker machten. Wenn er diesmal noch ungeschoren davonkam, würde er sich in einen anderen Bezirk absetzen.
Wieder blickte der Alte sich um. Die Ungeborenen hatten Lähmstrahler gezogen und richteten sie auf die Männer. Um den Gaukler legte sich ein feines Flimmern. Mitten im Lauf brach der Mann zusammen und blieb reglos liegen. Während sich die eine Maschine über den Gelähmten beugte, setzte die andere die Verfolgung fort. Auf der Haut spürte der alte Mann ein sanftes Kribbeln. Man hatte also auch auf ihn gefeuert, doch der Lähmstrahl wirkte nicht, die Entfernung war zu groß.
Zu seiner Linken tauchte eine Hofeinfahrt auf. Dem Alten, der am Ende seiner Kräfte war, erschien sie als die Rettung. Vor Anstrengung taumelnd, bog er in den Durchlass ein. Mit einer letzten
Willensanstrengung schleppte er sich in eine Nische und ließ sich völlig verausgabt auf den Boden nieder.
Die Lungen rasselten, und gierig schnappte der alte Mann nach Luft. Sein faltiges Antlitz war schweißüberströmt, er zitterte am ganzen Körper. Mit fahrigen Händen holte er die Schnapsflasche aus der Tasche und trank sie aus.
»Alkohol ist Gift für die menschliche Gesundheit«, schnarrte eine synthetische Stimme.
Vor Schreck ließ der Alte die Flasche fallen. Sie rollte dem Medo genau vor die Füße.
»Wer sagt das?«, krächzte der Bettler.
»Das Gesundheitsgehirn Hypo-Delta 14-S 9. Sie werden in eine Entziehungsanstalt eingewiesen. Kommen Sie mit!«
»Warum lässt man mich in den letzten Tagen dieses Lebens nicht in Ruhe?«
Der Automat antwortete nicht. Der alte Mann beugte sich vor und kroch auf die Flasche zu. Er nahm sie in die Rechte und richtete sich auf. Langsam hob er die Hand, die die Flasche hielt.
»Machen Sie keine Schwierigkeiten!«