Leseprobe – Planet in Flammen


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1.

»Der größte Missbrauch ist, wenn von der Macht
sich das Gewissen trennt.«

William Shakespeare (engl. Dichter – 1564 bis 1616)

 

Die junge Frau, siebenundzwanzig Jahre alt und ziemlich hübsch, saß vor dem gekrümmten Fenster der Nachrichtenkuppel und blickte hinaus, ohne zu registrieren, was ihre Augen erfassten. Caroline Mauning wurde überall nur Carol genannt; sie war Erste Nachrichtentechnikerin. Hinter der konkaven Luke der Kuppel erstreckte sich eine unfassbare, von der Schönheit absoluter Leblosigkeit erfüllte schwarze Wüste. Der Mond hatte Erdlicht, und tiefschwarze Schatten streckten sich über die dunkelbraunen und grauen Flächen des Kraters Graham.

In achtundneunzig von hundert Fällen trägt ein Mann die Schuld, wenn ein Mädchen deprimiert ist. So auch hier. Carol verwünschte sich zum hundertsten Mal, dass sie erstens Crouden kennen gelernt und zweitens ihn nicht eher durchschaut hatte und drittens mit ihm zusammen hierher geflogen war. Jetzt war es zu spät, darüber zu grübeln – trotzdem tat sie es.

Draußen, über dem Ringwall des Kraters Graham, leuchtete die grünblaue Vollkugel der Erde. Der Krater, dessen rund 100 000 Quadratkilometer Umgebung dem Meer der Gefahren angehörten, war nichts anderes als eine ringförmige Aufschüttung aus Urgestein. Mitten in dem kleinen Ring lag die irdische Mondstation – fast unsichtbar und zu vielen Teilen in einen Bimssteinfelsen eingeschnitten. Nur die Kuppeln, die sich oberhalb der Mondoberfläche befanden, konnte man mit starken Refraktoren von der Erde sichten, und auch nur dann, wenn ihre Schatten sie hervorhoben.

Die Station war angelegt wie ein Rechteck, das nur zu drei Vierteln ausgefüllt war. Die Gänge und Kuppeln boten, nach einem fast genialen Plan aneinandergereiht und miteinander verbunden, dieses Bild. Es gab zehn Kuppeln unterschiedlicher Größe. Der Rest bestand aus einem mächtigen Teleskop, einer ausgedehnten Funkmastanlage, Sonnenspiegeln und zahlreichen Schleusen, Rampen und kleineren, halb in den Mond eingegrabenen Schuppen und Dächern. Aber das alles sah Carol nicht.

Sie starrte blicklos in die Einsamkeit hinaus, hinter deren Horizont die Berge der Wallebene Cleomedes aufragten. Die zerklüfteten Gipfel waren im Nordosten unterbrochen durch den Einschlag eines Meteors, der vor Jahrmillionen niedergegangen sein mochte und den Krater Talles hinterlassen hatte. Carols Problem war, wie es schien, nicht zu lösen. Wenn sie ihr bisheriges Leben an sich vorüberziehen ließ, passte der Gegenstand ihrer schwermütigen Betrachtungen absolut nicht in die Linie, die sie sich vor neun Jahren errechnet hatte. Aber mit Menschen konnte man nicht rechnen – man verkalkulierte sich zu häufig. Auch mit Crouden hatte Carol sich erbärmlich verkalkuliert.

Er war tüchtig, ehrgeizig, sah sehr gut aus und war ihr erster Liebhaber gewesen, der erste Mann in ihrem Leben, korrigierte sie ihre Gedanken. Es ist nicht schwer, ein Mädchen restlos an sich zu binden, wenn man Unerfahrenheit, Verliebtheit und jene stille Bewunderung ausnützt, die jede Frau – auch wenn sie kritisch veranlagt ist – dem Manne ihrer Wahl zubilligt. Nicht nur das; Crouden war ein geschickter Taktiker. Aber – unter der polierten Oberfläche verbargen sich das Herz und der Verstand eines mittelmäßigen Buchhalters. Ohne Phantasie, ohne diese innere Beweglichkeit, die andere Menschen Romane schreiben, Bilder malen oder irgendein anderes Hobby treiben lässt – was Crouden konnte, war zwar nicht wenig, aber nicht genug.

Und genau das war es, was Carol wütend auf sich selbst machte; deswegen hasste sie ihre eigene Schwäche. Es war diejenige einer Frau, die einem Manne verfallen ist und selbst – bis auf wenige Minuten, in denen der Verstand nicht mehr funktionierte – nicht weiß, weswegen sie diesen Mann nicht wie eine Rakete in den Weltraum schoss.

Die automatische Kamera neben der linken Hand Carols machte »Klick«, schwieg dann und klickte wieder. Auf den schmalen Filmstreifen würden jene Bilder gebannt, die ein Schlepper draußen auf der Mondoberfläche machte und hierher funkte. Carol stand mit dem Schlepper in ständiger Funkverbindung, aber sprach nicht. Nur die Bilder kamen an, wurden aufgenommen und verschwanden wieder, machten anderen Platz.

Ein anderes Gerät schnurrte sanft.

»Hier Elf. Hast du etwas für unseren Routinebericht, Carol?«

Die Stimme gehörte zu Nummer Elf – jeder der vierzehn verschiedenfarbigen Raumanzüge der Stationsbesatzung trug eine Nummer auf Brust und Rücken. Nummer Elf war die Zweite Nachrichtentechnikerin, Corinne Scott. Corry, wie sie hier gerufen wurde, eine sechsundzwanzigjährige Engländerin, saß in der Funkkuppel und stellte die Sendung zusammen, die zweimal täglich zur Erde gestrahlt wurde.

»Nein, Corry – nichts da. Young und Belin fahren mit dem Schlepper im Crisium Patrouille. Sie haben bis jetzt nichts gefunden, was bemerkenswert wäre.«

»Danke«, sagte Corinne Scott und schaltete ab.

Man hatte auf der Erde rund ein halbes Menschenalter Zeit gehabt, diese Station zu planen. Von den Einzelteilen der Ausrüstung bis zum Typ der menschlichen Besatzung war jedes Ding nur Teil einer gigantischen Rechnung, die jetzt langsam aufging. Die Raketen, die man jede Woche hier hinaufschoss, waren nicht nur als Frachtraum zu gebrauchen, sondern konnten restlos zu anderen Maschinen oder zu Dingen umgebaut werden, die der Station hier weiterhalfen.

Die elektronischen Steuergeräte wurden nach einem planvollen Puzzlespiel wieder zu Funkgeräten oder anderen Instrumenten zusammengebaut. Die Tanks – gereinigt und mit anderen Anschlüssen versehen – konnten, in den Mondboden eingebettet, als Vorratsbehälter für Sauerstoff, Wasser, Säuren oder Laugen benutzt werden. Die Leitungen blieben, was sie waren, das Metall der Raketenwände wurde von den Maschinen der Technikergruppe umgeformt und ergab Traktordächer, Schuppen oder luftdichte Türen. Man konnte jede Schraube brauchen – alles war wie ein riesiger Metallbaukasten genormt und aufeinander abgestimmt. Erstaunlich, dachte Carol. Erstaunlich war, dass die Station erst knappe sechs Wochen hier stand. In diesen vierzig Tagen hatten die Männer der Technik die beiden Raumschiffe bis auf die Düsen auseinander genommen und die erste wohl geplante Mondstation gebaut.

Nach einem exakten Plan waren die Schiffe gelandet. Kaum schwiegen die Landedüsen, rollte ein Arbeitsprozess ab, der gewissermaßen den Grundstein der Siedlung gelegt hatte – denn hier war eine ausgedehnte Stadt geplant; Urbs Maris Crisium.

Noch war es aber nicht soweit – erst zehn kleine Kuppeln standen. Die Entwicklung hatte das Stadium des Aufbaues hinter sich gelassen und befand sich jetzt im Ausbau. Die Station wuchs und wurde immer größer und besser eingerichtet.

Die Ladekräne der Schiffe hatten die Frachträume frei gemacht. Die Maschinen, die aus dem Mondgestein und den erforderlichen Mineralien geradezu unerschöpflich scheinende Mengen flüssigen, schäumenden und biegsamen Kunststoff herstellten, liefen gleichzeitig mit dem Aufbau der Kuppeln an. Zuerst wurden die halbkreisförmigen Kuppeln aufgeblasen, dann spritzten die Düsen der langen Plastikschläuche den Schaumstoff auf, der Sekunden später erstarrte. Aus der bereits ausgesparten Schleuse wurden die Hüllen wieder herausgezogen und an anderer Stelle aufgeblasen.

Vorgefertigte Schleusen, transparente Dreifachscheiben mit Blendenflüssigkeit, Röhren der Luftversorgung und zahllose Stromanschlüsse wurden eingebaut, dann besorgten weitere Geräte die Verkleidung der Innenräume. Schallisolation fiel hier wegen des fast vollkommenen Vakuums aus; die Wärmeverluste wurden auf einen derart niedrigen Wert heruntergedrückt, dass später anlaufende Anlagen ihren Strom vollständig an die Maschinen und Geräte abgeben konnten.

So entstand innerhalb von wenigen Tagen in der Schwerkraft des irdischen Trabanten die Station. Vierzehn Menschen konnten nach langjährigem Training und mit den abgestimmten Maschinen diese Arbeit leisten. Sobald die Kuppeln standen, fertigten die Kunststofftechniker die Verbindungsgänge, brachten große Dächer als Meteorschutz und die mechanischen Riegel und Sicherungen der Schleusen und der Luftsicherungsanlagen an. Verlor die Station an einem Punkt Luft, so sorgte eine sinnvolle elektronische Anlage dafür, dass innerhalb von drei Sekunden rund fünfzig verschiedene Schotts und Türen geschlossen wurden.

Bereits einen Monat vor dem projektierten Start hatten die vierzehn Teammitglieder alle diese Arbeiten auf der Erde ausgeführt, von Technikern und Lunarpsychologen mit Stoppuhren und Arbeitsblättern kontrolliert. So wurden Pannen vermieden.

Nummer Zwölf kam herein. Er trug ein Tablett und bediente die Türmechanismen mit seiner Stimme.

Diese zusätzliche Sicherung war eingebaut worden, um eine zweite Möglichkeit zum Eindringen in ein beschädigtes Gebäude sichern zu können. Auf dem Tablett stand das Frühstück für Carol.

»Herzlichen Gruß von Dominique – sie vermisst nur die Eierschalen.«

Zwölf – Michel Naira, ein dreißigjähriger Holländer, der hauptsächlich die Fahrzeugtechnik unter sich hatte, lächelte Carol an und kniff die Augen zusammen, als er ihren melancholischen Gesichtsausdruck bemerkte.

»Ist was los?«, sagte Michel.

»Natürlich nicht.« Carol ließ die Seite des Protokolls auf dem Bildschirm verschwinden.

»Na, Carol?«, zweifelte Michel, »Heimweh nach der Erde?«

Carol schüttelte den Kopf und sah wieder hinaus auf die staubige Ebene, in der sich so wenig ereignete, wie sich auf einer staubbedeckten Fläche eines Jahrmilliarden alten Satelliten ereignen könnte, der außer zufälligen Meteoreinschlagen oder einem bruchlandenden Raumschiffsendstück nichts anderes kannte.

»Hör auf, in Buchtiteln zu reden«, brummte Carol. Michel steckte sich seine dritte der vier täglichen Zigaretten an und stieß den Rauch in die Richtung auf einen Abzugskanal aus.

»So ist’s recht«, sagte er nickend. »Miss Mauning, die Verkörperung der guten Laune, die Schönheit unseres kleinen Teams – befindet sich in einer Phase der Niedergeschlagenheit. Soll ich dir Beauregard schicken?«

Carol drehte ihren Kopf und sah Michel Naira an. »Es soll immerhin vorkommen«, sagte sie leise und bedeckte das Mikrophon der Sprechanlage mit einer Hand, »dass es gewisse Stunden gibt, in denen man sich ziemlich verloren vorkommt. Und wenn dann noch ein netter Mann kommt wie du und bissige Bemerkungen von sich gibt, dann könnte man losheulen wie ein kleines Kind. Willst du das mitansehen?«

Naira schluckte, betrachtete das glühende Ende seiner Zigarette und sah dann wieder auf.

»Was soll ich machen?«, sagte er behutsam. »Irgendwen erschießen, einen Teil der Station sprengen oder dir einen doppelten Whisky bringen. Sag’s mir, ich laufe sofort.«

»Letzteres, Michel«, sagte Carol. Naira verstand, machte den schwachen Versuch eines Lächelns und ließ das Schott leise hinter sich zugleiten.

Mit nur mäßigem Appetit machte sich Carol an ihr Frühstück. Es war nicht notwendig, dachte sie, dass sie auch zu allem Kummer noch abmagerte. Crouden …

Wenn ein Staat der Erde ein derartiges Projekt startete, konnte er mit Freiwilligen rechnen, mit denen er Armeen gefüllt hätte. Es war nichts anderes als angewandte Selektionstheorie, was die Psychologen und Ärzte trieben. Und so blieben von einigen Tausend nur achtundzwanzig Raumfahrer und zukünftige Lunatier übrig. Vierzehn Frauen und vierzehn Männer. Jeder Platz in den zukünftigen Raumschiffen war doppelt besetzt.

Sieben Männer und sieben Frauen schnallten sich fest, ehe die beiden Schiffe aus einer riesigen Wolke verbrannter Treibstoffe heraus starteten und sich auf die lange Reise machten. Diese vierzehn Menschen waren in vielerlei Hinsicht gesiebt und ausgewählt worden. Sie verkörperten nicht nur eine wissenschaftliche und technische Elite, sondern besaßen auch in menschlicher Hinsicht die besten Qualitäten. Dazu kam, dass sie mindestens drei Jahre lang die einzigen Menschen auf dem Trabanten der Erde sein würden, bis sich die ersten Großschiffe in Marsch setzten, um Urbs Maris Crisium zu bauen.

Dreimal zweiundfünfzig Mondtage und Mondnächte, dreimal dreihundertundfünfundsechzig Tage. Sie waren als soziale Gruppe getestet und ausgesucht – sie passten zusammen. Nur – einen Punkt konnte die gesamte empirische und praktizierende Psychologie der Erde nicht voraussagen, ausschließen oder steuern. Das waren die zwischenmenschlichen Beziehungen: Hass, Liebe, Zuneigung oder Ablehnung. Keiner, der zahlreichen Psychologen hatte erkannt, wie sehr Carol an Crouden hing und wie sehr McKechnie sie verehrte. Allerdings wusste das nicht einmal Carol selbst, nur die derzeit noch stellungslose Psychologin der Station, Dominique Beauregard, hatte eine leise Ahnung, aber auch sie wusste nichts Bestimmtes.

Jetzt vergingen die Tage, indem die Männer in drei Schichten mit den Exkavatoren arbeiteten, um tiefe Gänge und große Räume in die Mondwelt zu schneiden. Die Maschinen, im Wesentlichen Ultraschallsägen mit verschiedenen Meißeln und Messern darstellten, wühlten sich wie stählerne Maulwürfe unterhalb der Station in den Bimsstein und in das quarzhaltige Gestein. Sie schufen Vorratsräume, ein Wohnzentrum und Unterkünfte, deren Gestaltung in den Händen des Zweiten Leiters, Architekten, Ersten Technikers und Verantwortlichen Leiters der Bauzentrale lag: Ariel McKechnie.

Ariel hatte die Pläne gezeichnet, führte die Exkavatorgruppen an und konstruierte gerade mit Sven Nyevelt, dem Riesen, eine Maschinerie, die das zerstäubte Gestein hinausbeförderte. Lange, bewegliche Schläuche aus Kunststoffgliedern mit großem Querschnitt, die mit Saugdüsen ausgerüstet waren, krochen hinter den Exkavatoren her und wirbelten weißen Staub auf die Mondoberfläche hinaus. Auf der Erde hätte der Wind den Staub in weiten Schleiern davongeweht; hier senkte er sich langsam, geräuschlos und beharrlich auf die Ebene im Inneren des Kraters Graham.

Immer länger wurden die Gänge und zahlreicher die Abzweigungen. Die Höhlen erhielten ebenfalls Kuppelcharakter, nur die Bar, der erklärte Liebling ihres Schöpfers, erforderte die gesamte Kunst des Dänen, der den kleineren Maulwurf steuerte. Demnach musste dieser Raum ein architektonisches Wunderding werden. Jedenfalls verwendeten die beiden Männer – McKechnie und Nyevelt einen Großteil ihrer Freizeit damit, sich über Zeichnungen zu streiten oder zusammen mit Cyriac, der Chemikerin, Farben und die Möglichkeiten zu deren Herstellung durchzusprechen.

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