Leseprobe – PROTOTYPEN


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Prolog

Mit einem Mal war sie bei Bewusstsein. Sie breitete reflexartig die Arme aus, die sofort gegen einen Widerstand stießen. Wo war sie? Und wer war sie? Namenlos und ohne Gedächtnis fand sie sich in einer Röhre wieder, aus der Flüssigkeit ablief. Sie würgte an einem Schlauch in ihrer Kehle und zog ihn in einer schnellen Bewegung heraus.

Sobald die Flüssigkeit zu ihren Füßen versiegt war, öffnete sich die Röhre, und sie konnte heraustreten. Der enganliegende Overall war weniger Kleidung als ein Ganzkörpermessinstrument. Es speicherte alles, was in ihrem Körper vorging, und im Moment produzierte er ausschließlich Extremwerte. Sie trug keine Fesseln mehr, besaß aber eine intensive Erinnerung an die enge Umklammerung an ihren Handgelenken. Alle Sicherungen waren weg, nur die Schläuche des Overalls verbanden sie noch mit der Maschine. Mit einem einzigen Schlag ihres Unterarms löste sie die Verbindung. Wer hatte sie aufgeweckt und befreit?

Sie befand sich in einem riesigen Labor, das in viele gläserne Module unterteilt war. Auch in den anderen Abteilungen standen Röhren wie ihre, und alle waren leer. Es gab andere wie sie, das wusste sie, auch wenn sie noch nie direkten Kontakt zu ihnen gehabt hatte. Wo waren sie hin? Wurden sie ebenfalls befreit? Anscheinend hatte man ihren Behälter zuletzt geöffnet.

Niemand war da, um ihr den Weg in die Freiheit zu zeigen. Sie musste aus diesem Labor heraus, fühlte sich aber noch schwach. Schwer atmend stützte sie sich gegen die durchsichtige Trennwand. Brandfest, strahlenundurchlässig und vor allem bruchsicher.

Am Eingang zum Labor sah sie bewaffnete Männer und Frauen hereindrängen. Gleichzeitig öffneten sich die Module, indem sich ein einzelnes Glaspaneel in den Boden absenkte. Was zuvor ihr Gefängnis gewesen war, hätte ihr nun als Schutzraum dienen können, wenn die Bewaffneten nicht den Schlüssel zu allen Modulen besessen hätten. Als sie ihr Ziel ausmachten, schossen sie sofort. Das durchsichtige Material hielt der ersten Salve stand, verwandelte sich aber in ein Meer aus Spinnennetzen. Die Eindringlinge verteilten sich. Das waren nicht die regulären Sicherheitskräfte, die Unbefugte am Betreten der Labore hindern sollten. Diese Leute hatten eine andere Aufgabe. Sie sollten verhindern, dass jemand das Labor verließ, und sie waren spezialisiert auf solche Tätigkeiten.

Namenlos wusste das, ohne sagen zu können, woher ihr Wissen stammte. Das galt auch für die ganzen anderen Informationen, die unaufhörlich auf sie einprasselten. Sie nahm alles wahr, was um sie herum geschah. Doch das war noch nicht alles, denn sie konnte es auch augenblicklich einordnen und interpretieren.

Die zweite Salve ließ die komplette Trennwand einstürzen, doch Namenlos war längst aus ihrem Modul heraus und bemühte sich, so viele andere wie möglich zwischen sich und die Schützen zu bringen. Sie erreichte eine gläserne Außenwand des Gebäudes und warf einen Blick nach draußen. Sofort erkannte sie ihren Standort, schätzte ihre Höhe anhand der umstehenden Gebäude ein und rief sich den Umgebungsplan ins Gedächtnis. Sie sah nur einen Weg nach draußen, und der führte durch die Fenster.

Die Bewaffneten, deren Name irgendwas mit einer Schildkröte zu tun hatte, bewegten sich immer schneller zwischen den Modulen hindurch. Sie ahnten, was ihre Zielperson beabsichtigte, auch wenn es ein völlig wahnwitziges Vorhaben war.

Namenlos wandte sich nach links und rannte auf die Fenster zu, die nach Osten führten. Sie hatte berechnet, wie weit sie sich bei ihrem Sprung vom Gebäude entfernen musste, um nicht unten auf der gepflasterten Promenade aufzuschlagen. Was sie nicht berechnen konnte, war der Widerstand, den die Fensterscheibe leisten würde. Es handelte sich bestimmt um Sicherheitsglas. Sie legte alle verfügbare Kraft in den Anlauf, während die Bewaffneten auf sie feuerten. Die sündhaft teure Laboreinrichtung wurde nicht geschont. So wichtig war es ihnen, sie aufzuhalten.

Im Laufen griff sie einen schweren Schreibtischstuhl an der Lehne und schleuderte ihn mit dem schweren Metallgestell der Rollen voraus gegen die Scheibe. Das Glas brach zwar nicht, bekam aber lange Risse. Ihr blieb keine Gelegenheit für einen zweiten Versuch. Wenn die Scheibe nicht nachgab, würden ihre Verfolger sie zusammenschießen, bevor sie ein zweites Mal Anlauf nehmen konnte.

Namenlos warf sich mit gekreuzten Armen vorwärts, das Glas gab nach, und sie befand sich in einem Splitterregen im Freien, weit oberhalb der Uferpromenade. Rasend schnell ging es nach unten, wo die Elbe gegen die Bruchsteinmauer stieß. Da endlich fiel ihr wieder ein, wie ihr Name lautete.

 

Kapitel 001

»Es hat ein Feuergefecht gegeben. Mit Toten. Vielen Toten. Flieg rüber und klär die Sache. Die Geier sind schon unterwegs.« Mit diesen Worten beendete sein Vorgesetzter das Gespräch und ließ Jesko Rudolph mit dem Problem allein.

Er hörte bereits den Quadrocopter, der sich dem Dach des Wohnturms näherte, um ihn aufzunehmen. Jesko zog seine Arbeitskleidung an und verließ seine Wohneinheit, die sich automatisch versiegelte. Die Sensoren des Aufzugs registrierten seine Annäherung und riefen eine Kabine auf das Stockwerk. Nach einer kurzen Beschleunigung aufwärts öffneten sich die Lifttüren, und Jesko trat auf dem Dach in den übelriechenden Nieselregen hinaus. Er hatte Glück mit dem Wetter, da es beinahe windstill war. Normalerweise kam einem in dieser Höhe der Regen waagerecht entgegen.

Der mattschwarze Quadrocopter mit der chromgelben Beschriftung schwebte einen halben Meter über der Landemarkierung und erwartete ihn. Jesko hielt seinen imprägnierten Regenmantel vorne mit einer Hand zusammen und eilte mit gesenktem Kopf auf die Einstiegsluke zu.

»Moin, Jesko«, grüßte der Pilot. Peety war knapp unter mittelgroß, besaß einen lockigen Haarkranz aus feuerrotem Haar und einen buschigen Schnauzbart, der so altmodisch war, dass ihn niemand historisch einzuordnen vermochte. Ihn einen Piloten zu nennen, wurde seinen Funktionen und Fähigkeiten nicht einmal annähernd gerecht. Der autonome Quadrocopter brauchte im Grunde niemanden, der ihn lenkte, aber dieses unscheinbare Männlein war in der Lage, ihn während des Fluges vollständig auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, während er Verbesserungsvorschläge für die nächste Modellreihe entwickelte.

Jesko nahm Platz, und die Gurtautomatik schloss sich. Augenblicklich stiegen sie auf und schwenkten von dem Wohnturm weg. Peety beschleunigte und verließ das Stadtgebiet von Bremerhaven. Sie überflogen das Niemandsland zwischen den Stadtgrenzen und erreichten die ersten Kontrollpunkte für den Großraum Hamburg.

Autonome Transporter und Gleiter bevölkerten den Himmel, darunter kamen die Hochbahnen und schließlich die Straßenbahnen und Busse. Einzelfahrzeuge waren größtenteils aus dem Stadtverkehr verbannt, aus dem einfachen Grund, weil es keinen Platz mehr für sie gab. Je weniger Geld jemand besaß, desto dichter musste man sich am Boden bewegen. Das günstigste Verkehrsmittel blieb die U-Bahn.

Sieben Minuten später näherten sie sich dem Tatort aus der Luft, eine Rauchsäule wies ihnen den Weg. Es machte den Eindruck, als befänden sie sich im Anflug auf ein Kriegsgebiet, aber tatsächlich handelte es sich um die Innenstadt von Hamburg.

Jesko hatte bereits während des Fluges sichergestellt, dass die Straße und die umliegenden Häuser wegen ungesicherter Sprengsätze geräumt wurden. Er konnte nicht mehr sagen, wie oft sie diesen Vorwand in der Vergangenheit schon benutzt hatten. Aber da es täglich überall auf der Welt Bombenanschläge gab, musste man bei einer solchen Sachlage nicht lange diskutieren. Niemand hielt es heutzutage für abwegig, dass zwei Straßengangs, die sich eine Schießerei lieferten, auch Sprengsätze mit sich führten. Laut der verbreiteten Tarngeschichte hatte eine Straßengang, wahrscheinlich die HH-Hools oder kurz H3, ein Drogenlabor oder einen Unterschlupf einer konkurrierenden Gang angegriffen. Unbestätigten Gerüchten zufolge eine norwegische Bande, die in der hiesigen Branche Fuß fassen wollte. Das mochte beim ersten Hören merkwürdig klingen, würde aber die Geier für eine Weile mit Recherchen zu den Expansionsbestrebungen skandinavischer Straßengangs beschäftigen. Mehr brauchte Jesko nicht.

Der Quadrocopter setzte ihn am Rand der Absperrung ab. Er hatte sich aus der Luft einen Überblick von der Umgebung verschafft. Die Schießerei war auf einen Straßenzug begrenzt geblieben, was auf jeden Fall ein Vorteil war, aber keine Selbstverständlichkeit bei einem Turtle Shield-Einsatz. Augenzeugen dürfte es wenige geben, denn in den heutigen Zeiten eilten die Menschen bei Schüssen nicht ans Fenster, um nachzuschauen, was vorging, sondern warfen sich auf den Boden und blieben dort, bis jemand Entwarnung gab. Außerdem besaßen viele Gebäudetroniken eine automatische Sicherheitsvorkehrung, die die verstärkten Rollläden an den Fenstern zum Herabfahren veranlasste, sobald die Sensoren Gefahr meldeten.

Jesko überzeugte sich davon, dass die eintreffenden Medien von ihrem Standplatz aus nichts erkennen konnten. Die City-Police hatte den Straßenzug an beiden Enden abgeriegelt und große Sichtschutzschirme aufgestellt. Mehr durften sie kaum noch tun, bevor Leute wie Jesko übernahmen. Entsprechend frustriert waren die Männer und Frauen in Uniform. Wenn sie Glück hatten, bekamen sie Gelegenheit, eine Spähdrohne der Medien-Geier abzuschießen, die unberechtigt in den gesperrten Luftraum eindrang. Aber solche Vergnügen waren selten geworden, weil der Verlust einer Drohne für die Geier einen hohen Kostenfaktor darstellte. Das Gejammer über fehlende Pressefreiheit mochte gerechtfertigt sein, aber Jeskos Arbeit hatten die Abschüsse fraglos erleichtert.

Er näherte sich an einer unauffälligen Stelle der Absperrung. Ein Stadtpolizist trat ihm mit erhobener Hand entgegen: »Na, was kann ich für dich tun, Kumpel?«

Jesko hielt ihm seinen Mitarbeiterausweis unter die Nase, während er vorüberging. »Jesko Rudolph, LupoTek.«

Sofort verfinsterte sich die Mine des Polizisten noch um einiges mehr. Es war offensichtlich, was den Mann so gegen ihn einnahm. Jesko hatte als Privatmann eine höhere Sicherheitseinstufung als er selbst. Diese Reaktion kannte Jesko zur Genüge und hatte längst aufgehört, ihr entgegenzuwirken.

Er war erfolgreicher Problemlöser eines multinationalen Großkonzerns, aber er gab zu, dass er nicht unbedingt der landläufigen Vorstellung eines solchen Spezialisten entsprach. Er war afrikanischer Abstammung, ohne ebensolche Wurzeln, litt milde an seinem Übergewicht und trainierte seit seinem achten Lebensjahr täglich Aikido, weil eine sportliche Betätigung im Leben wichtig war und man als dickes schwarzes Kind keine leichte Schulzeit hatte. Darüber hinaus pflege Jesko eine gewisse Schlampigkeit im Äußeren und penible Korrektheit bei seiner Arbeit. Wobei sein Erscheinungsbild eigentlich keine Rolle spielte, denn sein Mitarbeiterausweis sicherte ihm in weiten Teilen der Welt die Unterstützung von Konzernmitarbeitern und verlieh ihm innerhalb von Hamburg sogar Halbgottstatus.

Das Ablenkungsmanöver für die Geier von der Presse war sofort nach seiner Benachrichtigung gestartet worden. Die Problemlöser von LupoTek verfügten über feste Einsatzkonzepte für ihre Einsätze. Ein Basisprotokoll, das sofort umgesetzt wurde, damit man Zeit gewann, um individuelle Begebenheiten zu ermitteln und sich darauf einzustellen.

Schritt 1: Sie verhängten eine Nachrichtensperre, um weitere Schaulustige abzuhalten, anschließend kümmerten sie sich um die Geier, die schon auf dem Weg waren. Eine Tarngeschichte wurde verbreitet und jede davon abweichende Version sofort dementiert oder als Falschmeldung bezeichnet. Das entmutigte einen Großteil der Meute und ließ sie sich auf die Suche nach einer anderen Sensation machen.

Schritt 2: Eine andere Sensation wurde lanciert. Quasi als Trostpreis. Jeskos Abteilung hatte solche vermeintlichen Knüller immer in der Schublade und konnte sie bei Bedarf einsetzen. Er und seine Kollegen ließen Informationen durchsickern, die einen viel größeren Nachrichtenwert besaßen. Zu diesem Zweck bezahlten sie einige Schläfer, die sich rund um die Uhr für eine solche Ablenkung bereithielten. Sie standen unter anderem auch als Augenzeugen zur Verfügung, die brav ihre Texte aufsagten. Diejenigen Geier, die noch zum ersten Tatort unterwegs waren, würden daraufhin die Richtung ändern und der falschen Fährte folgen.

Schritt 3: Die Geier, die bereits am Tatort eingetroffen waren, wurden so lange außer Sichtweite hingehalten, bis sie die Lust verloren oder es tatsächlich nichts mehr zu sehen gab. Sie würden natürlich wissen, dass etwas vertuscht wurde, aber sie hatten keine Ahnung was, von wem oder weshalb. Über Com-Funk sprach man ausschließlich über die Tarngeschichte, in diesem Fall eine Schießerei zwischen zwei verfeindeten Gangs. Solche Ergebnisse waren an der Tagesordnung und deshalb für die mediale Berichterstattung nicht mehr besonders interessant.

Jesko rückte die Strickmütze auf seinem Kopf zurecht und schlug seinen Regenmantel an der Hüfte zurück wie ein Revolverheld. Nur, dass er anstelle einer Waffe eine kleine Umhängetasche unter dem Mantel nach vorne zog.

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