Leseprobe – Nick – Arena des Irrsinns


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Kapitel 1: Ankunft im Eis

 

Unzählige zu spitzen Pfeilen erstarrte Schneeflocken schlugen ihm ins Gesicht – von einem polarkalten Wind zu Spiralen verwirbelt und wie durch verborgene Gigaventilatoren machtvoll in die Luft geschleudert. Seine Haut vibrierte schmerzhaft unter dem Ansturm der Partikel.

Nick begriff: Die erste Runde in der Fünf-Epochen-Arena war soeben eingeläutet.

Steinzeit!

Aber wohin hatte man ihn genau geschickt? Vorsichtig – in alle Richtungen schauend und dem pausenlosen Aufprall der winzigen Eisstücke trotzend – suchte er fieberhaft nach einem Fixpunkt, mit dessen Hilfe er seinen Standort näher bestimmen konnte. Aber das undurchdringliche Gemenge aus Eis und Schnee gestattete kaum einen Blick hinter den weißen Vorhang. Nur schemenhaft erkannte er durch den Schleier aus gefrorenen Flocken und spitzen Kristallen hindurch die mächtige Kulisse eines gewaltigen Bergmassivs. Er befand sich in einem Hochgebirge, und während er abwärts über eisverkrustete Hänge stapfte, musste er sorgfältig auf den Weg achten, denn Schnee verdeckt Spalten, und es konnte schnell passieren, dass er plötzlich in eine Vertiefung rutschte und sich die Knöchel brach.

Apropos Knöchel!

Was trug er da eigentlich an den Füßen, dass sie ihm in dieser Eislandschaft nicht froren? Mit skeptischen Blicken schaute er an sich herab und inspizierte sein altertümliches Outfit. Natürlich waren es keine kälteisolierenden und feuchtigkeitsabweisenden Thermopenschuhe des 21. Jahrhunderts, seine Fußbekleidung war aus Leder gefertigt und mit Bast zugeschnürt, der Schaft ragte bis weit über die Knöchel. Neugierig öffnete Nick einen Schuh und staunte über die Innenbeschichtung. Sie bestand aus einer Lage Stroh – ein idealer Schutz gegen die Kälte. Die Steinzeitmenschen waren keine primitiven Halbaffen, sondern intelligent und erfinderisch, sie wussten sich einer unwirtlichen Umgebung überlebensgerecht anzupassen.

Nick konnte sich ein verhaltenes Grinsen nicht verkneifen. Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Frühgeschichte des Menschen mussten in den vergangenen hundert Jahren immer wieder revidiert werden. Hielt man den Neandertaler bei der Entdeckung des ersten Fundes im 19. Jahrhundert noch für eine Übergangsform zwischen Mensch und Affe, so hatte man schon längst erkannt, dass er sich in seiner Gesamterscheinung nicht wesentlich vom Homo Sapiens unterschieden hatte. Nur seine Gesichtszüge waren etwas gröber, trotzdem wäre er – in einen modernen Anzug gekleidet – in den belebten Einkaufszentren moderner Großstadtmetropolen kaum aufgefallen. Hinzu kamen Entdeckungen, die eindeutig darauf hinwiesen, dass er Flöte spielte, seine Toten beerdigte und durch den Besitz eines Zungenbeins sogar des Sprechens mächtig war, nicht anders als beim Homo Sapiens.

Vom Homo Erectus, einem anderen Vorfahren des Sapiens, wusste man inzwischen, dass er Speere konstruieren konnte, die aerodynamisch für optimale Würfe perfekt konstruiert waren. Nick empfand Bewunderung für diese Menschen, denn die Entwicklung solcher Waffen setzt eine hohe Intelligenz voraus, und an Zufälle glaubte er nicht.

Welchen Menschentypus würde er in dieser Zeit und inmitten einer grandiosen Bergwelt antreffen? Seine Kleidung ließ darauf schließen, dass es sich um die Jungsteinzeit handeln müsste. Aber sicher war er sich dessen nicht, denn Alt- und Jungsteinzeit konnten auch gleichzeitig existieren. Nick erinnerte sich, dass selbst im 21. Jahrhundert in den Urwäldern des Amazonas und auf Neuguinea immer wieder neue, bisher unbekannte und vor der Weltöffentlichkeit verborgene Stämme entdeckt wurden, die als Jäger und Sammler auf der Stufe der Altsteinzeit lebten, obwohl sie über dieselbe Intelligenz verfügten wie Vertreter fortgeschrittener Zivilisationen, aber ihr ökologisches Umfeld versorgte sie mit allem Notwendigen. Es bedurfte keiner Veränderung der Lebensweise, wie es im Übergang von der Alt- zur Jungsteinzeit notwendig wurde, als sich das Klima änderte und Menschen zunächst in den Ländern des Fruchtbaren Halbmondes sesshaft wurden.

Abrupt brach Nick seine Überlegungen ab. Jetzt gab es Dringenderes, als sich über die Entwicklung der menschlichen Kultur Gedanken zu machen. Mit welchen Kleidungsstücken hatte ihn die Große Fünf neben dem Schuhwerk noch ausgestattet? Er hob den rechten Arm und betastete seine Schädeldecke. Kälte empfand er weder an den Ohren noch auf der Kopfhaut und der Grund dafür lag auf der Hand – im wahrsten Sinne des Wortes: Er trug eine Mütze aus Fell. Dann richtete er seinen Blick auf Brust und Bauch. Die Jacke bestand ebenfalls aus wärmender Tierhaut, sein Beinkleid aus dunkelbraunem Leder. Seitwärts an den Schultern hingen ein aus Leder gefertigter Köcher mit Pfeilen, deren Spitzen teils aus geschliffenem Stein, teils aus geschnitzten Knochen bestanden, dazu ein gebrauchsfähiger, passend gespannter Bogen; auf dem Rücken trug er einen Korb, das Holzgestell war beutelartig mit Leder umspannt und mit jedem Schritt schlugen das Gepäckstück, der Köcher und der Bogen unangenehm gegen die Schulterblätter.

Nick wollte wissen, was sich im Innern des Ledersacks befand. Er löste die Halterung und legte seinen Tragekorb ab. Mit einem schnellen Griff öffnete er den großen Beutel und langte mit der rechten Hand hinein. Was hatte ihm die Große Fünf zum Überleben mitgegeben? Zunächst entdeckte er etwas Verpflegung: zwei Stücke Fleisch, ein kleines Fladenbrot und einige dunkle Beeren. Die akute Gefahr, schon am Anfang dieses Abenteuers verhungern zu müssen, bestand also nicht. Dann kramte er weiter und brachte zwei Steine zum Feuermachen, trockenes Moos als Zunder, Späne, Holz, Baumrinde, ein Beil mit einer Kupferklinge, einen Kochtopf, einen Kupferbecher, eine Decke, trockene Kleidung, Handschuhe und eine Strohmatte ans Tageslicht, dazu zwei gerundete Hölzer, die man vor die Augen spannen konnte – als Schutz vor spitzzackigen Eiskristallen und hellgrellem Sonnenlicht. Schmale Schlitze ermöglichten einen eingeschränkten Blick in die nächste Umgebung. Eine geniale Erfindung. Man hatte in der Steinzeit also auch schon so etwas Ähnliches wie Sonnenbrillen gekannt.

Über den Kupferbecher und das Kupferbeil aber staunte Nick am meisten. Diese Gegenstände waren nicht typisch für die Jungsteinzeit. Er musste sich also in der Übergangsphase zwischen Neolithikum und Bronzezeit befinden, als die Menschen kupferhaltiges Gestein entdeckt und Techniken entwickelt hatten, das Metall aus den Felsen zu schmelzen.

 

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