Leseprobe – Die Saat der Ewigkeit


Zum Roman

 

1.

Arley Venini musterte seinen Gast aus halb geschlossenen Augen. Das folgende Gespräch konnte der Angelpunkt seines waghalsigen Planes sein, wie immer es auch verlaufen mochte. Einige Minuten fehlten bis siebzehn Uhr.

Reg Talbot hatte weit auseinanderstehende dunkle Augen, eine platte Nase und einen Unterkiefer wie eine Maus. Sein Mund war ein bitterer Doppelstrich; der haarlose Schädel glänzte matt. Sein hellgrauer Anzug aus schillerndem Silbergewebe warf funkelnde Reflexe. Zwischen dünnen Fingern hielt Talbot den ausgeglühten Rest einer Zigarette. Die andere Hand griff in die Tasche und zog ein schmales Kuvert heraus.

Talbot bemühte sich um Ironie, als er sagte: »Sollte Ihnen der Termin tatsächlich entgangen sein, Arley?«

Venini lächelte unfreundlich und starrte Talbot an. »In der Tat. Ich weiß noch immer nicht, wovon Sie reden. Können Sie sich präzisieren? Meine Zeit ist kostbar.«

Talbot lächelte und sagte: »Gern, mein lieber Freund.«

»Ich bin weder lieb noch Ihr Freund. Das wissen Sie genau. Ich kann Sie nicht leiden, arbeite aber gern mit Ihnen zusammen – das ist’s.«

Talbot wedelte mit dem silbergrauen Kuvert. »Das erst macht Sie zu einem angenehmen Partner. Ihr Sarkasmus ist der Nektar meines Lebens.«

Venini lächelte. »Wenn Sie noch lange hier sitzen bleiben und reden, wird ein unterarmlanges Stahlstativ die Ambrosia meines Lebens sein und der Grund Ihres raschen Dahinscheidens. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und stehlen Sie nicht meine Zeit.«

Ein Windstoß fuhr durchs Fenster und wirbelte holografische Fotos, Papier und Asche durcheinander. Talbot warf den Zigarettenrest in eine kasminische Porzellanschale. »Ich bin hier«, sagte er, »um Ihnen die Einladung Ihres Klienten Sigvard Bangkok zu überbringen. Heute Abend findet in den Räumen von Ray Hill eine intime Party mit ungefähr einhundert geladenen Gästen statt, zu der Sie selbstverständlich überaus herzlich eingeladen sind. Haben Sie tatsächlich das erste Schreiben nicht erhalten?«

Venini antwortete: »Ich habe tatsächlich nicht – vermutlich ist es übersehen worden.«

Talbot nickte zufrieden, fuhr mit seiner Knochenhand über seinen kahlen Schädel und sagte, während er ein Auge zukniff: »Sicher haben Sie es übersehen und mir dadurch Gelegenheit gegeben, Ihr entzückendes Studio, einen Teil Ihrer Privatwohnung und Ihre ebenso bemerkenswerte Sekretärin zu sehen.«

Während er aufstand, sagte Venini grinsend: »So wird es gewesen sein, ja. Ich zitterte förmlich der Annehmlichkeit Ihres Besuches entgegen. War das alles?«

Talbot nickte heftig und fuhr fort: »Holen Sie also Ihr plissiertes Hemd aus der Reinigung, waschen Sie sich den Hals und kommen Sie. Sie brauchen auch vorher keinen Wurststand aufzusuchen; wir haben uns erlaubt, für ein paar Kleinigkeiten Sorge zu tragen.«

»Wie aufmerksam«, sagte Venini ohne Begeisterung. »Komme ich auch heute Abend in den Vorzug Ihrer Gesellschaft?«

»Kaum«, sagte Talbot und hustete wie ein Sterbender, »ich bin nur der Privatsekretär von Mister Bangkok. Ich sorge dafür, dass Sie und Ihresgleichen gut unterhalten werden.«

Während auch Talbot aufstand und sich hinter seinen Sessel stellte, sagte Venini: »Dazu wird Ihre Abwesenheit sicherlich beitragen.«

Talbot lächelte anerkennend, näherte sich der Tür und sagte sehr laut: »Sie wissen, dass Sie in Begleitung kommen sollen? Bringen Sie jemanden mit?«

Arley schob ein Layout zur Seite; es verdeckte den Türöffner. Er ließ seine Hand über dem Kontakt schweben und sagte: »Ich weiß es noch nicht. Vielleicht.«

Talbot ging, wie er gekommen war: geräuschlos und unauffällig. Jetzt wusste Venini, dass er die erste Runde klar gewonnen hatte. Sein Plan lief. Das Ziel des Planes war nichts anderes als die STINGRAY.

*

Terra im Jahr 2456. Das Monterey stand zwischen San Francisco Nova und Los Angeles II an der Westküste. In der Miete für Räume und Wohnungen waren Aussicht über den Strand und das Meer enthalten. Die Gesellschaft, die den vierhundert Meter hohen Wohnturm gebaut hatte, ließ sich die Aussicht mehr als teuer bezahlen. Das Monterey war Teil einer Neuansiedlung, die keinen Namen trug, sondern eine Ansammlung von Namen war: Snob Hill, Ray Hill, Monterey, Bangkok Center … Es war der Sitz der letzten Gesellschaft von Terra, des Finanzadels.

Im einhundertsten Stock hatte Arley Venini Studio, Büro und zwei Wohnungen gemietet. Hier arbeitete, wohnte und schlief er. Hier hatte auch Dorceen ihr Apartment.

Dorceen war eine Androidin. Sie war der Beweis dafür, dass man Partner und Kameraden kaufen konnte – mit Geld. Seit zehn Jahren arbeitete Venini mit ihr zusammen. Seit dieser Zeit hatte es nicht eine einzige Panne gegeben, keinen Versager. Es schien, als ob dieses Team es fertigbrachte, gleichzeitig die Vollkommenheit einer Maschine mit der Intuition eines Menschen zu koordinieren. Es war nicht leicht.

Arley Venini setzte sich und griff in das Kästchen mit den Zigaretten. Er drehte ein Stäbchen zwischen den Fingern, dachte ruhig nach und entzündete endlich die Zigarette; automatisch und ohne hinzusehen. Dann drückte er behutsam die Taste des Tischgeräts. Sofort meldete sich Dorceen.

»Mister Venini?«

Wie alles an Dorceen war auch ihre Stimme das Ergebnis jahrzehntelanger Verbesserungen: eine geschulte, geschmeidige Altstimme; souverän und seidig.

»Kommst du einmal zu mir?«

»Sofort.«

Die Tür glitt in die Wand. Zweieinhalb Quadratmeter gemasertes Plastik schob sich zurück, um die Androidin hereinzulassen. Dorceen kam schnell die acht Meter heran, die den Arbeitstisch von der Tür trennten, und blieb hinter dem Schalensessel stehen. Arley wies auf den Sessel. Die Androidin setzte sich graziös.

»Wie lange arbeiten wir schon zusammen?«, fragte Arley ruhig. Er rauchte in langen Zügen und betrachtete das vollkommene Abbild einer jungen Frau vor ihm – das Abbild.

»Zehn lange, kurze Jahre, eine einzige Anstrengung. Ich möchte nicht einen Tag davon missen.«

»Hmmm«, machte Venini. »Du hast vermutlich gehört, was der Knochenkopf gesagt hat?«

Sie nickte aufmerksam. »Er hat nicht versäumt, es auch mir mitzuteilen. Er scheint es für ungemein lustig zu halten, wenn Sie mit mir zu der Party kämen.«

»Es scheint so, Dorceen. Was hältst du eigentlich von mir? Wie würdest du mich einem anderen Menschen schildern, charakterisieren?«

Dorceen überlegte einige Sekunden, dann sagte sie ruhig und wohldurchdacht: »Sie sind siebenunddreißig Jahre alt, mit scheinbar grauen Augen, die in Wirklichkeit aber grün sind. Sie sind wie ein Falke im Frühling: ruhelos und aufgeregt. Ein Mann, für diese Zeit sehr untypisch. Erfolgreich, unspezialisiert. Eine ungewöhnliche Erscheinung in einer Welt spezialisierter Talente, die nicht genügend synchronisiert werden.«

»Ein Abenteurer …?«, fragte Venini leise und sah in die blauen Augen der Androidin.

»Vielleicht«, erwiderte Dorceen halblaut. »Ein Mann, der jeden Moment Heimat, Namen und Freunde wechseln kann, ohne aufzufallen. Der hier verschwindet und unvermutet am anderen Ende der Galaxis auftaucht. Es wird nicht der letzte Name sein, den Sie im Moment tragen, Venini.«

»Eine ausgezeichnete Definition, Dorceen. Was weißt du eigentlich über Kai?«, fragte er.

Vor zehn Jahren, als sich Venini entschlossen hatte, mit einigen ungewöhnlichen Ideen in die Werbung zu gehen, hatte er sein letztes Geld in den Kauf der Androidin investiert. Dafür, dass er heute mehrfacher Millionär war, hatte sich Dorceen vollkommen amortisiert. Nicht ein einziger Mensch hätte das fertiggebracht, was sie geschafft hatte. Sie war Sekretärin, Modell mit ständig wechselndem Aussehen und Idealmaßen, Begleiterin, unermüdliche Arbeitskraft und so programmiert, dass das Pseudohirn unter ihrem Haar nahezu jedem menschlichen Hirn überlegen war.

»Alles«, antwortete die Androidin. »Alles, Venini.«

Seine Gedanken machten innerhalb weniger Sekunden einen Satz, der ihn zehn Jahre in die Vergangenheit zurücktrug. Damals …

 

2.

Damals hieß Venini anders. Er war einer jener Männer, die niemand nach dem Namen fragte, weil Erscheinung und Wirkung ihrer Arbeit mehr wogen als jedes Zeugnis, jeder Ausweis. Er war lange Jahre durch den Raum geflogen, erst als Schiffsjunge, dann als Offizier. Er hatte sich selbstständig gemacht, war zwei Jahre lang mit einem schrottreifen Frachter geflogen – und hatte auch das aufgegeben. Er kaufte sich ein Boot, umsegelte zweimal die Erde und lief jeden Hafen an, den er auf seinen Karten entdecken konnte. Dann flog er ein halbes Jahr eine Raum-Rennjacht und musste zum ersten Mal erleben, dass er nicht alles konnte. Er hatte gegen einen Beschleunigten Piloten, einen mit Chemikalien und Elektronik gedopten Jockey, nicht viel Chancen. Er gab auf und gründete die Werbefirma. Und noch während einer Zwischenlandung mit der PHÖNIX erlebte er etwas Merkwürdiges; auf Malaren, in einer Bar.

Eine lange Theke, Schwaden aus Rauch, Gestank und durchleuchtet von dem roten Licht aus transparenten Hautschirmen … betrunkene Männer, die sich unterhielten und der eindringliche Ton aus den Soonevflöten der Eingeborenenkapelle. Es gab Streit.

Zwei Männer, die sich schlugen, die schrien und sich wieder trennten. Der Wirt griff nach einem Knüppel und versuchte, hinter dem Tresen hervorzukommen. Zu spät. Ein Feuerstrahl leuchtete auf, riss für eine lange Zehntelsekunde die erschrockenen Gesichter der Zuschauer und Gäste aus der diffusen Dunkelheit, zischte durch den Raum. Mündete mitten auf der Brust eines der beiden Männer.

Ein Mann starb, ein terranischer Neusiedler, der seine Tochter mit in die Bar gebracht hatte. Ein für ihr Alter großes Mädchen; vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Das Kind blieb zurück, tränenlos neben dem Toten stehend. Sie hieß Kai, wie man später feststellte. Kai Kosta.

Einer plötzlichen Laune und hochschießendem Mitleid folgend, kümmerte sich Venini um das Kind. Es war unglaublich verwahrlost. Innerlich und äußerlich, und Venini regelte mit den örtlichen Behörden das Notwendige. Er kaufte einen Koffer voller Kleider, einige Buchfilme und nahm das Kind mit sich zurück nach Terra. Unterwegs lockte er die unglaubliche Lebensgeschichte des Mädchens aus ihm hervor und beschloss, einen groß angelegten Versuch zu wagen. Wie sehr konnte gezielte Erziehung gegen Anlagen und Schäden kämpfen, die in frühen Jahren verursacht worden waren? Es war ein Versuch – nicht mehr, nicht weniger. Alles, was Venini tat, tat er gründlich.

Kai kam zu den Strengen Schwestern Des Goldenen Kelches.

Seit zehn Jahren übersandte Venini jedes Jahr einen mehr als großzügig dotierten Scheck und erhielt dafür ein dreißig Seiten starkes Schriftstück, einen Bericht über die Erziehung des Mädchens und die erzielten Fortschritte, über Kais Betragen und ihre körperliche wie geistige Entwicklung. So, wie es heute aussah, war das Experiment geglückt.

Kai war rund fünfundzwanzig Jahre alt und eine Schönheit. Das bewiesen die Hochglanzfotos, die dem Jahresbericht der Strengen Schwestern beigefügt wurden.

Venini nahm aus der untersten Schublade seines Tisches das letzte Foto hervor und legte es vor sich auf den Tisch. Das lächelnde Mädchen vor ihm hatte starke Ähnlichkeit mit Dorceen – eine um fünf Jahre jüngere Schwester mit blondem Haar und grauen Augen.

»Du weißt also alles?«, fragte Venini noch einmal. Dorceen nickte.

»Dann weißt du auch, dass Kai dir erstaunlich ähnlich sieht?«

Die Androidin lächelte überaus herzlich.

»Ich kenne auch den Grund, Mister Venini. Wollen Sie ihn hören?«

»Natürlich. Er interessiert mich.«

»Als Sie mich aussuchten … nach welchen Gesichtspunkten gingen Sie vor? Ich meine die äußeren Merkmale«, sagte Dorceen, deren Haar jetzt wieder hellbraun zu werden begann. Sie trug diese Farbe, wenn nichts anderes verlangt wurde.

»Es würde zu lange dauern, alles aufzuzählen, Dorceen«, erklärte Venini gespannt, »aber ich hatte natürlich ziemlich fest umrissene Vorstellungen.«

»Das wollte ich hören!«, bestätigte Dorceen.

»Ja?«, fragte Venini. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Sie würden in jedem Fall ein weibliches Wesen nach diesen Vorstellungen aussuchen. Also auch ein junges Mädchen, das noch an der Schwelle der Entwicklung steht. Hier arbeitet mehr Unterbewusstsein mit, als Sie und ich denken, Mister Venini.«

Arley lachte kurz auf. »Mädchen«, sagte er, »du überraschst mich immer noch, selbst nach zehn Jahren.«

Das Haar wurde immer brauner; die Augenfarbe blieb.

»Ich hoffe, diese Fähigkeit noch eine Weile lang beibehalten zu können«, erwiderte Dorceen. Wenn Arley gut gelaunt war, nannte er sein Modell und seine Sekretärin ›Mädchen‹.

»Gut«, sagte er. »Willst du mit mir heute Abend auf diese Party gehen? Ich habe einen Plan, der während einiger Stunden ausgeführt werden muss. Du könntest mir helfen.«

»Sicher, gern«, erwiderte Dorceen. Ihr Gesicht drückte absolut menschliche Freude aus. Androiden, Kennwort-programmiert, wandelten sich, sobald ein bestimmter Verhaltenskomplex angeregt wurde, vollkommen adäquat. Ihr variables Herz brauchte nur den entsprechenden Impuls, um einen gerissenen Kaufmann, einen schwer schuftenden Arbeiter oder eine trinkfeste Begleiterin zu gebären. Nur war jeweils die ausgelöste Qualität jeder menschlichen Reaktion hoch überlegen – also fast vollkommen.

»Was wünschen Sie, das ich anziehen soll?«

Venini überlegte nicht lange und erwiderte: »Die Perlenkombination, die wir vor Kurzem für die Fotos mit der STINGRAY machten. Sie werden diesem Abend entsprechen. Dazu braunes Haar und blaue Augen?«

Ohne zu lächeln, sagte Dorceen: »Selbstverständlich. Es ist fast sechs Uhr. Schließen wir Ihr Studio?«

»Sind die Layouts fertig?«

»Ja. Sie sind bereits weitergeleitet. Vielleicht wird Ihnen Mister Bangkok heute Abend schon sagen können, wie ihm die Ideen gefallen. Ich werde auf den Roboter umschalten und in einigen Augenblicken in meiner Wohnung verschwunden sein.«

Venini steckte das Bild Kai Kostas zurück, stand auf und sagte: »In Ordnung. Ich hole dich ab, wenn ich fertig bin.«

Dorceen ging. Selbst ihr Gang war vollkommen. Unerreichbar für Menschen. Arley Venini sah ihr versonnen nach. Er hatte sie gekauft wie eine Maschine, eine sehr teure und gute Maschine, aber eben nur eine Maschine. Und dieses Spitzenmodell der Nach-Saundersonschen terranischen Androidenproduktion hatte es zuwege gebracht, dass er nicht mehr ohne Dorceen arbeiten konnte. Die Partnerschaft war offensichtlich nicht mehr zu verbessern. Venini war dank Dorceens Hilfe und ihres unermüdlichen Fleißes mehrfacher Millionär. Zehn Jahre lagen hinter ihnen, voller verrückter Ideen, nächtelanger Arbeit, abwegiger Gags und hoher Einnahmen.

 

Zum Roman