Leseprobe – Kampf um die Unsterblichkeit


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 1.

 

Der Schmerz war allumfassend und flutete seinen Körper wie ein Meer aus Feuer, das sich immer tiefer fraß. Dann konzentrierte er sich, glitt mit messerscharfen Impulsen die Nervenbahnen entlang, von den Fußsohlen die Oberschenkel empor, über sein gepeinigtes Rückenmark bis direkt hinein ins Gehirn.

Seine Gedanken pulsierten diffus, konnten sich nur langsam zu einem vernünftigen Aufbau ordnen. Doch allein die Existenz der Schmerzimpulse verriet ihm genug:

Sie hatten ihn wiederbelebt!

Langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Riesig erschien ihm die scharfe Schneide des Rasiermessers. Ein schmaler Strom hellroten Blutes quoll aus den hässlichen Wunden.

Er verspürte wieder die Erleichterung, mit der er das Blut aus den aufgeschnittenen Pulsadern hatte spritzen sehen. Dann war sofort wieder die Hoffnungslosigkeit da, die der Schmerz mit sich brachte.

Er wollte seine Angst vor dem Unausweichlichen hinausschreien, doch die Stimmbänder versagten ihm noch den Dienst.

Tonfrequenzen hämmerten auf seine Trommelfelle ein.

Die Pein ließ jetzt etwas nach, wich der Allgegenwärtigkeit des Lebens, das durch seine Glieder pulsierte. Er fühlte einen hauchzarten Luftzug, der um seinen nackten Körper strich.

Endlich konnte er die Stimme erkennen. Es war die des Lagerkommandanten, der sein »Willkommen zurück, Coleman!« mit einer Gleichgültigkeit sprach, die ihn fast noch mehr erschütterte als die Erkenntnis, dass auch dieser Selbstmordversuch gescheitert war.

Die Glut in seinen Fußsohlen wandelte sich abrupt zu einem intensiven Prickeln. Er hatte das Gefühl, auf einem Nadelkissen zu gehen, obwohl er genau wusste, dass er angeschnallt und völlig hilflos auf einer harten Pritsche lag.

Sein Geist leerte sich, um ihm die Möglichkeit zu geben, die nun folgende, unausweichliche und grauenhafteste Phase der Wiederbelebung zu überstehen. Doch bevor er jeden auch noch so fragmentarischen Gedanken unterdrückt hatte, stachen die imaginären Nadeln mit ihrem höchst realen Schmerz zu. Statt Blut raste plötzlich Lava durch seine Adern, verbrannte seinen Körper von innen zu einer undefinierbaren, aber empfindenden Schlacke, gelangte in sein Denken und füllte es mit einer Woge aus Furcht und Hoffnungslosigkeit.

Speichel lief ihm aus dem leicht geöffneten Mund, als er sich trotz der Riemen zuckend auf der Pritsche wand. Seine gesamte Existenz bestand nur noch aus Feuer und Hitze, diente einzig dem Zweck, ihn die Pein in jeder Phase miterleben zu lassen.

Er übergab sich.

Als er endlich den sauren, ekelhaften Geschmack von Magenschleimhautfetzen im Mund schmeckte, wusste er, dass das Schlimmste überstanden war.

Vorsichtig öffnete er die Augen und schloss sie sofort wieder. Seine Umgebung drehte sich rasend schnell. Er übergab sich erneut, diesmal jedoch schon in dem Bewusstsein, dass der Tod ihm auch weiterhin versagt bleiben würde.

Denn er zählte zu den wenigen Menschen, für die das Sterben seinen Schrecken verloren hatte und zugleich zu einer unerfüllbaren Hoffnung geworden war.

Langsam beruhigten sich seine Körperfunktionen.

Erneut drang ein Dröhnen an seine Ohren; wieder konnte er es nur mühsam als Sprache identifizieren. Etwa fünf Minuten der wunderschönsten Gleichmütigkeit vergingen, bevor er die Worte auseinanderhalten und die Augen öffnen konnte.

Das fette Gesicht des Chefarztes grinste ihn an. Ekel stieg in ihm empor, als er die feuchten, dicken Finger des Mannes an seinem nackten Körper spürte.

»Eyke Coleman, Nummer Dreieinszweisieben«, sagte der Arzt mit einer Stimme, die in seinen Ohren wie der Donnerhall beim Jüngsten Gericht toste. »Ihr fünfter Versuch, wenn ich mich recht entsinne? Die Konsequenzen sind Ihnen natürlich bekannt.«

Eyke schwieg. Es gab für ihn kein Entkommen. Wozu sollte er seine Hoffnungslosigkeit, seine Verzweiflung noch eingestehen? Sie hatten ihm nie eine Chance gelassen, er stellte für sie nichts weiter als eine Spielfigur dar, die sie ganz nach Belieben bewegen konnten. Sämtliche internen Bestimmungen existierten nur zu dem Zweck, seinem Unterbewusstsein wenigstens einen kleinen Rest von Hoffnung zu belassen, zu verhindern, dass es noch tiefer in die nah hinter einem dünnen Schleier liegenden Gefilde des Wahnsinns abgleiten konnte.

Denn welcher Ausweg außer dem Wahnsinn stand einem Mensch nach zweihundertunddreizehn Jahren Leben noch offen, wenn einem die Flucht in den Tod verwehrt war?

Der Lagerarzt setzte eine Injektion an. Die Biesenbach-Droge, die seine Zellen zu ständiger Regeneration anregte, hatte einen unerfreulichen Nebeneffekt: Die Schmerzempfindlichkeit des Körpers wurde in Zehnerpotenzen hochgeschraubt. Coleman empfand den Einstich der Nadel so stark, dass er glaubte, sein ganzer Arm würde vom Körper gerissen werden. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.

»Können … können Sie nicht etwas vorsichtiger sein?«, stammelte er.

Der Arzt lachte. »Nein«, gab er lapidar zurück.

Langsam ebbten die Schmerzen wieder ab. Coleman hätte es dem Arzt niemals eingestanden, aber er fühlte sich augenblicklich gestärkt. Die Wirkung der Injektion setzte unmittelbar ein. Er konnte seine Umgebung wieder klar und deutlich wahrnehmen.

Der Lagerarzt schnallte ihn gleichmütig los und warf ihm eine neue Montur hin. »Ziehen Sie sich an«, sagte er. »Der Kommandant wünscht Sie zu sprechen. Auf der Stelle.«

Mit noch ungelenken Bewegungen glitt Coleman von der Pritsche und zog die Montur über. Sie bestand aus einem grauen, hauchdünnen, aber sehr widerstandsfähigen Kunstfaserstoff; undeutlich konnte er sich daran erinnern, vor langer Zeit selbst an der Entwicklung dieses Kunststoffs mitgewirkt zu haben.

Eigentlich war im Lager ein jedes Kleidungsstück überflüssig. Es herrschte eine konstante Temperatur von genau den Werten, bei denen man sich rundum wohlfühlte. Die Bekleidung wurde nur ausgeteilt, damit die Lagerinsassen bei ihrer Arbeit nicht durch Schamgefühle behindert wurden.

Taumelnd verließ Coleman die medizinische Station. Vor ihm erhellten verborgene Leuchtkörper die Gänge des weit verzweigten unterirdischen Schachtsystems. In die Wände eingelassene und sorgfältig abgeschirmte Heizkörper strahlten die angenehme, gleichförmige Wärme aus.

Er passierte einige Metallschotte, die jedoch alle verschlossen waren. Dahinter befanden sich die mannigfaltigen Ausrüstungsgegenstände des Lagers, die Bibliothek, die Computer, die Waffen der Wachtruppen. Wenn überhaupt, durfte ein Lagerinsasse diese Räume nur in Begleitung eines Wachhabenden betreten.

Noch waren seine Nerven dermaßen aufgeputscht, dass er die Berührung seiner Fußsohlen mit dem Boden als Schmerz empfand. Er ignorierte ihn jedoch und schritt mechanisch aus. Nach über zwei Jahrhunderten würde er sich selbst mit geschlossenen Augen in der Station auskennen.

Zischend glitt vor ihm ein Schott in die Wand zurück. Coleman blickte auf. Er hatte das Büro des Lagerkommandanten erreicht.

Der Kommandant ‒ keiner der Insassen kannte seinen Namen oder die Position, die er in der Konzernhierarchie einnahm ‒ war ein kleinwüchsiger Mann von vielleicht sechzig Jahren. Von seiner Körperstatur her erinnerte er eher an ein Kind, aber wer ihn näher kannte, wusste um den eisernen Willen dieses Mannes mit dem schütteren Haar. Er befand sich schon so lange hier im Lager, dass Coleman ihn im Verdacht hatte, ebenfalls unsterblich zu sein. Nun, dann hatte er immerhin das Beste aus seiner Situation gemacht.

»Nummer Dreieinszweisieben«, las er von dem Output-Element des Lagercomputers auf seinem Schreibtisch ab, ohne aufzublicken. »Wir haben Sie soeben vor dem fünften Versuch, sich das Leben zu nehmen, bewahrt. Irgendein Kommentar?«

Coleman lachte auf.

Lässig schwenkte der Kommandant in seinem drehbaren Sessel herum und betrachtete sein Gegenüber. »Sie kennen die Vertragsbedingungen, nicht wahr?« Er deutete seinem Besucher an, auf einem harten Plastostuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen.

»Natürlich. Schließlich bin ich ja schon lange genug hier.«

»Seit wann eigentlich?«

Coleman blickte überrascht auf. Normalerweise pflegte der Kommandant bei einer Verkündigung der Disziplinarstrafe, die auf einen Suizid-Versuch stand, keinerlei weitere Bemerkungen zu machen.

»Gegen Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts habe ich den Vertrag mit Shaleb geschlossen«, erklärte Coleman zögernd. »Unsterblichkeit gegen fünfundzwanzig Jahre Frondienst.«

Was für ein Narr war er doch gewesen, den Versprechungen des Konzerns Glauben zu schenken. Wie oft hatte er sich in schlaflosen Nächten, als er sich von einer Seite auf die andere wälzte und die Anspannung nicht aus seinem Körper weichen wollte, schon mit Selbstvorwürfen gequält, nach Auswegen gesucht, im Unterbewusstsein immer mit dem Wissen, sie niemals finden zu können.

»Die erste Vertragsübertretung erfolgte bereits nach einem halben Jahr, sehe ich hier!« Der Kommandant ließ seine Blicke wieder über den Computer-Output huschen.

Coleman nickte. Der Vertrag war eindeutig gewesen. Kaum hatte der Shaleb-Konzern jene Biesenbach-Droge, die einem Menschen ein anscheinend endlos verlängertes Leben sichert, aus den umfangreichen Testreihen herausgenommen, hatte er auch schon Anzeigen in allen Organen der Fachpresse geschaltet, die auf einen sehr speziellen Empfängerkreis zielten: junge Männer und Frauen mit überdurchschnittlich hoher Intelligenz sowie einem ausgeprägten Fachwissen auf jenen Gebieten, denen die Interessen des Konzerns galten. Welches technische Umfeld damals, zu Beginn des Vertrags, gerade aktuell gewesen war, hatte er schon längst vergessen. Wenn man die Möglichkeit hat, zweihundert Jahre lang immer neues Wissen zu erarbeiten, vergisst man auch viel.

Die Herstellungskosten für die Biesenbach-Droge waren damals wie heute unermesslich hoch gewesen. Die Mengen der Droge, die in den Shaleb-Laboratorien synthetisiert wurden, reichten nur für einen sehr begrenzten Käuferstamm aus ‒ einen zu begrenzten, um einen finanziellen Gewinn aus der Erzeugung zu ziehen, auch wenn es Menschen geben mochte, die sich die Unsterblichkeit ein Vermögen kosten lassen würden.

»Coleman!« Der Kommandant riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ja?« Eyke blickte auf.

»Träumen Sie mit offenen Augen?«

»Nein … ich …« Er verstummte. Jede Äußerung würde der Kommandant zu seinem Nutzen verwenden. Er hatte wahrhaftig Zeit genug, ihn für die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte damit zu quälen. Vertrauliche Gespräche mit dem Lagerpersonal waren ein Ding der Unmöglichkeit.

»Anstatt Shaleb für die Verlängerung Ihres Lebens zu danken, haben Sie das Vertrauen des Konzerns missbraucht und einen Vertragsbruch begangen!«

Shaleb zu danken … Coleman wollte laut lachen, wagte es dann aber doch nicht. Nein, der Konzern hatte erkannt, dass nicht der Verkauf der Droge, sondern ihre Nutzung auf Dauer allein die gigantischen Entwicklungskosten wieder hereinbringen würde.

Und hatte das Lager errichtet. Eine hermetisch abgeschlossene, geheime, verborgene Brutstätte der Intelligenz. Dreitausend junge Menschen, die einen Fünfundzwanzig-Jahres-Vertrag unterschrieben hatten. Fünfundzwanzig Jahre exklusiver Arbeit für Shaleb, fünfundzwanzig Jahre ununterbrochen an den verschiedensten Projekten. Dreitausend Menschen mit überdurchschnittlicher Intelligenz mal fünfundzwanzig Jahre … Diese Rechnung war durchaus auf einen Nenner zu bringen, ging auf.

Eyke Coleman hatte unterschrieben. Gewiss, er hatte alle Punkte des Vertrags genau bedacht und geglaubt, diese Zeit durchstehen zu können. Was waren schon fünfundzwanzig Jahre, wenn einen danach die Unsterblichkeit erwartete?

Er hatte die Zeit nicht durchstehen können.

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